Schmerzen ohne Grund? Wem Emotionsregulation helfen kann

Klare organische Ursachen, die körperliche Beschwerden erklären könnten, sind nicht immer auszumachen. Psychologen sprechen dann von Somatoformen Störungen. Foto: Colourbox

Ein Druckgefühl im Brustraum, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Schmerzen in Armen oder Beinen, mitunter ein Gefühl der Luftnot – doch eine klare organische Ursache, die die Beschwerden erklären könnte, gibt es nicht. Krank ohne scheinbaren Grund – chronische Schmerzen ohne körperlichen Befund. Psychologen sprechen in einem solchen Fall von Somatoformen Störungen. Etwa 12 von 100 Menschen leiden mindestens einmal im Leben unter dieser psychischen Erkrankung. „Sie haben körperlich ungeklärte Symptome, die zu viel Leid führen“, erklärt Dr. Jens Heider, Psychologe und Geschäftsführer der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz am Campus Landau. 

Die bei Somatoformen Störungen auftretenden Beschwerden können alle Organsysteme betreffen – und sich in verschiedenen Symptomen äußeren. Sie können immer mal wieder auftreten – oder dauerhaft sein. Psychologen nehmen an, dass sie seelisch bedingt sind, beispielsweise durch Stress, zwischenmenschliche Konflikte oder eine seelische Anspannung. Oft kriegen Betroffene zu hören, dass sie „doch gar nichts haben“. Manche haben eine regelrechte Odyssee hinter sich – gehen von einem Arzt zum nächsten, fühlen sich unverstanden. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machen sich nicht selten breit.

Schmerzen ohne klare Ursache – zwei Therapieformen wurden verglichen

Als Wissenschaftler geht Jens Heider der Frage nach, wie man Menschen mit Somatoformen Störungen helfen kann – und wie man bestehende Therapie-Ansätze verbessern könnte. Ein schwieriges Forschungsfeld, wie er ergänzt, denn Effekte einer Behandlung seien nicht einfach auszumachen. „Das ist anders, als wenn Sie beispielsweise eine Angststörung therapieren“, erklärt der Psychologe, „hier sehen Sie den Effekt einer Behandlung in der Regel wesentlich stärker.“ 

Gemeinsam mit Kollegen, unter anderem von der Universität Marburg, hat Heider – im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten multizentrischen Studie – zwei Therapie-Möglichkeiten miteinander verglichen: „ENCERT“ lautet der Titel der Untersuchung – die Abkürzung steht für „Enriching Cognitive-Behavorial Therapy with Emotion Regulation Training“. Der Name verrät, um was es geht. Jens Heider: „Verglichen wurde die Behandlung von Somatoformen Störungen einerseits mithilfe einer Verhaltenstherapie. Und andererseits mit Verhaltenstherapie kombiniert mit Emotionsregulationstraining.“ 

Über 250 Patienten waren in die Studie involviert. Sie wurden in zwei Gruppen unterteilt: Eine Gruppe durchlief eine klassische kognitive Verhaltenstherapie. „Bei diesem Ansatz geht es darum, die Gedanken – und Verhaltensstrukturen des Patienten zu verändern.“ Bei der zweiten Studiengruppe wurde die Verhaltenstherapie durch ein Training der Emotionsregulation ergänzt: „Hier geht es darum, dass Patienten zusätzlich lernen, ihre Gefühle zu steuern.“ Was letztendlich, so die Hypothese der Studie, auch die Schmerzwahrnehmung beeinflussen könnte. Patienten aus beiden Ansätzen nahmen zunächst an fünf vorbereitenden Sitzungen teil, „und dann an insgesamt 20 Therapiesitzungen“, erklärt Jens Heider, der sich vor etwa 20 Jahren zum Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie weiterqualifiziert hat – und mittlerweile auch als Dozent in diesem Bereich tätig ist.

Emotionen und körperliche Beschwerden hängen zusammen

Der zusätzliche Ansatz eines gezielten Trainings der Emotionsregulation komme nicht von ungefähr, wie Jens Heider weiter ausführt: „Emotionen und körperliche Symptome hängen eng zusammen. Sie beeinflussen sich gegenseitig.“ Bei negativen Emotionen etwa könnten sich Schmerzen verstärken: „Nackenschmerzen oder ein Drücken im Bauch können mehr werden, wenn man in einer negativen Stimmung ist. Wenn man vielleicht Stress hat.“ 

Andersherum könne Euphorie die Schmerzwahrnehmung dämpfen, wie Heider weiter berichtet. Und bringt ein Beispiel, an das sich viele erinnern: Der Fußballspieler Bastian Schweinsteiger musste 2014 im WM-Finalspiel gegen Argentinien einiges einstecken – etwa eine Verletzung unter dem rechten Auge. Ein gegnerischer Spieler hatte ihm bei einem Kopfballduell den Arm ins Gesicht geschlagen. Schweinsteiger blutete, wurde kurz getackert und spielte scheinbar unbeirrt weiter. Von Schmerzen keine Spur? Jens Heider: „Er war euphorisiert. Schmerzen spürte er sicherlich keine.“ Bastian Schweinsteiger hatte den WM-Sieg vor Augen. Den mutmaßlich besten Moment seiner Fußballerkarriere. Große Freude kann die Schmerzwahrnehmung gegen Null tendieren lassen.

Doch wie kann man seine Gefühle beeinflussen? Und vor allem: Wie kann man eine solche Regulation trainieren? Heider: „Sind Sie beispielsweise traurig, dann könnten Sie gezielt den Kontakt zu einem anderen Menschen suchen. Und es geht Ihnen vielleicht schon besser.“ Ein weiterer Schritt, seinen Gefühlen zu begegnen, sei Akzeptanz. „Manchmal hat man Angst vor bestimmten Situationen. Dann hilft es zu versuchen, diese Angst zu akzeptieren.“ Man müsse sich bewusst machen: „Ich akzeptiere, dass mir diese Situation jetzt Angst macht.“ Das könne laut Heider den Leidensdruck verringern. Auch bei Trauer könne das helfen: „Ich bin traurig. Ich akzeptiere das jetzt.“

Wie gelingt Emotionsregulation?

„Emotionsregulation besteht aus zwei Schritten“, differenziert es Heider ausführlicher. „Als Erstes muss man seine Emotionen erkennen. Also sich selbst die Frage stellen, warum geht es mir nicht gut – was ist das?“ Angst oder Wut müssten als solche erkannt werden. „Der zweite Schritt ist dann das Regulieren dieser Emotionen.“ Wenn man etwa Stress mit einem Kollegen habe, dann sei es wenig sinnvoll, stillschweigend gegen die Mülltonne zu treten. „Es hilft, jemanden gezielt darauf anzusprechen, wenn etwas in Schieflage ist.“ Ein gezieltes Gespräch könne helfen, ein negatives Gefühl wie Wut abzubauen.

Verhaltenstherapie kombiniert mit Emotionsregulation – nicht allen hilft es

Doch zurück zur Studie – welche konkreten Ergebnisse konnte ENCERT zeigen? Heider: „Zunächst beobachteten wir bei beiden Untersuchungsgruppen keinen Unterschied. Beide Therapie-Ansätze schienen gleich wirksam zu sein.“ Das sei für ihn und seine Forscher-Kollegen zunächst natürlich ernüchternd gewesen, berichtet Heider. „Doch dann haben wir nochmals genauer hingeschaut. Und uns die Gruppe, die zusätzlich mit einem Training der Emotionsregulation gearbeitet hat, differenzierter betrachtet.“ Diese Gruppe wurde nochmals unterteilt. In Menschen, die rein unter körperlichen Beschwerden leiden – „und solchen, die zusätzlich zu den körperlichen Beschwerden, auch ein anderes psychisches Problem haben. Wie beispielsweise eine Depression.“ Genau diesen Menschen hat, bei genauerer Betrachtung, eine Verhaltenstherapie – kombiniert mit Emotionsregulation – sehr wohl geholfen. Heider: „Sie litten nach der Behandlung seltener unter ihren Körperbeschwerden und waren im Alltag weniger dadurch beeinträchtigt.“

Zusammenfassend lasse sich sagen, „dass es bei Somatoformen Störungen mit nur körperlichen Beschwerden egal ist, ob eine Verhaltenstherapie alleine – oder kombiniert mit Emotionsregulation – durchlaufen wird.“ Bestehe aber zusätzlich ein weiteres Problem, wie eine Depression, dann sei die Kombination mit einem Emotionsregulationstraining besser. Eine Herangehensweise, die Heider und seine Kollegen nun auch in der Therapie anwenden möchten. 

Mehr Therapie-Sitzungen bei Somatoformen Störungen sinnvoll

„Dann haben wir aber noch eine weitere interessante Erkenntnis gewonnen“, ergänzt Heider mit Blick auf die ENCERT-Ergebnisse. Es gehe um die Anzahl der Therapie-Sitzungen. „Bisher wurden Somatoforme Störungen in Studien mit fünf bis maximal 15 Sitzungen behandelt.“ Dabei wurden meist nur wenige Effekte einer Therapie beobachtet. In der vorliegenden Studie seien dies nun erstmals mehr Sitzungen gewesen: „Wir nehmen an, dass wir insgesamt bessere Effekte beobachtet haben, weil wir mit mehr Sitzungen gearbeitet haben.“ Auch das sei ein Fazit der Studie: Für die Behandlung von Somatoformen Störungen seien mehr Therapie-Sitzungen nötig als bislang angenommen. „Die bisherige Dauer war nicht ausreichend.“ Eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis: Denn nach Depressionen und Angststörungen sind Somatoforme Störungen immerhin die dritthäufigste psychische Erkrankung in Deutschland.

Neue Studie: Schonhaltung aus Angst vor Rückenschmerzen 

In einem neuen Projekt der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz soll es nun um Rückenschmerzpatienten gehen: „Das Projekt wird von Frau Professor Glombiewski geleitet“, berichtet Jens Heider. Prof. Dr. Julia Anna Glombiewski ist Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters am Campus Landau. „Auch bei dieser Studie arbeiten wir wieder mit anderen Zentren zusammen.“ Hintergrund sei, so berichtet es Jens Heider, dass bei über 90 Prozent der Rückenschmerzpatienten keine organische Ursache für das Leiden erkennbar sei. Und weiter: „Rückenschmerzpatienten neigen dazu – aus Angst vor Schmerzen – bestimmte Bewegungen zu vermeiden. Infolgedessen kommt es zur körperlichen Schonung und zu einer Verstärkung der Angst vor Bewegungen.“ In der neuen Therapiestudie sollen Patienten nun mit ihren Bewegungsängsten konfrontiert werden: „Was eine bewährte Methode bei Angsterkrankungen ist“, ergänzt Heider. In der Rückenschmerzbehandlung sei der Ansatz allerdings noch relativ neu – „und noch recht wenig verbreitet.“ 

Im Frühjahr 2022 sollen die Untersuchungen beginnen. Rückenschmerzpatienten, die an einer Studien-Teilnahme interessiert sind, können sich voraussichtlich ab Mai bei der Universitätsambulanz melden. „Selbstverständlich arbeiten wir mit den behandelnden Ärzten abgestimmt. Es muss vorab ausführlich geklärt werden, ob auch wirklich keine organmedizinischen Gründe für die Rückenschmerzen verantwortlich sind. Nur dann kann man an der Studie teilnehmen.“ Schmerzen ohne Grund – nicht nur bei Rückenschmerzpatienten könnte dies möglicherweise schon bald der Vergangenheit angehören.

Dr. Jens Heider studierte von 1993 bis 1999 Psychologie am Campus Landau. Die Diplom-Hauptprüfung schloss er mit Auszeichnung ab. Von 2000 bis 2004 folgte ein Weiterbildungsstudium zum Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Im Jahr 2007 promovierte er zum Thema: „Wer profitiert? –Prädiktoren für den Therapieerfolg bei Patienten mit multiplen somatoformen Symptomen“. Seit 2007 ist Jens Heider Geschäftsführender Leiter der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz am Campus Landau. Seit 2021 ist er zudem Leitender Funktionspsychologe an der Psychosomatischen Tagesklinik der Schön Klinik Roseneck. Foto: WiPP e.V.

Wissenschaftliche Veröffentlichungen:

Senger K., Kleinstäuber, M., Rubel, J., Rief, W., Schröder, A. & Heider, J. (2022). Predicting Optimal Treatment Outcomes Using the Personalized Advantage Index for patients with persistent physical symptoms. Psychotherapy Research, 32, 165-178.

Kleinstäuber, M., Allwang, C., Bailer, J., Berking, M., Brünahl, C., Erkic, M., Gitzen, H., Gollwitzer, M., Gottschalk, J.M., Heider, J., Hermann, A., Lahmann, C., Löwe, B., Martin, M., Rau, J., Schröder, S., Schwabe, J., Schwarz, J., Stark, R., Weiß, F. & Rief, W. (2019). Cognitive behavior therapy complemented with emotion regulation training for patients with persistent physical Symptoms: A randomized clinical trial. Psychotherapy and Psychosomatics, 88, 287–299.

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