Semiotik: Faszinierende Zeichenwelt

Ein laufendes Männchen signalisiert Fußgängern, sie können die Straße überqueren. Zeichen spielen eine große Rolle in unserer Kommunikation. Wie das funktioniert erforscht die Semiotik, die Wissenschaft von den Zeichenprozessen in Kultur und Natur. Foto: Colourbox

Sie begegnen uns jeden Tag und überall: Verkehrszeichen, Piktogramme oder Emoticons – alles Zeichen, über die wir miteinander kommunizieren. Aber auch Wörter, Gesten und sogar künstlerische Werke oder Kleidung versteht die Semiotik als Zeichen. Als Wissenschaft der Zeichen beschäftigt sie sich damit, wie Zeichen, deren Gebrauch und Zeichensysteme funktionieren. 

„Wir verstehen Zeichen als etwas im weitesten Sinne Materielles, das mit Bedeutung verknüpft wird.“ Jan Georg Schneider ist Germanistikprofessor am Campus Landau. Und Semiotiker. Dieses Materielle kann beispielsweise schwarze Tinte auf Papier sein, die als Buchstaben entziffert wird, eine dreieckige weiße Metallplatte mit rotem Rand, die auf dem Kopf steht und wir als Vorfahrt-achten-Schild kennen. Etwas Materielles kann aber auch eine Lautkette sein, die wir als sprachliche Äußerung verstehen, ebenso wie eine sich bewegende Hand, die eine Gebärde oder Geste artikuliert. „Es gibt nichts, das an sich Bedeutung hat, sondern wir geben den Zeichen Bedeutung“. Das erfolgt nicht immer absichtlich, es ergibt sich aber immer im sozialen und kulturellen Kontext. „Die Bedeutung wird in der menschlichen Interaktion erzeugt“, so Schneider. Als Linguist und Sprachphilosoph interessieren ihn vor allem Zeichen im sprachlichen Kontext. „Ich bin Sprachwissenschaftler, war aber schon immer der Meinung, dass man die rein verbale Seite von Sprache nicht isoliert betrachten sollte.“ Kommunikation sei als ein hochkomplexer Vorgang zu analysieren, in dem nicht nur Wörter, sondern auch Gesten und bildliche Zeichen verschiedenster Art eine Rolle spielen. 

Schneider unterstreicht, dass es in der realen Kommunikation sehr häufig auf das konkrete Zusammenspiel verschiedener Zeichenarten ankommt – etwa auf das von verbaler Äußerung und Gestik in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht (Face-to-face-Interaktion) oder auf das von Schrift und Bild (beispielsweise in Comics oder Werbeplakaten). „Genau solche Phänomene des Zeichengebrauchs werden in der Semiotik aus verschiedenen fachlichen Perspektiven untersucht“, so Schneider. Diese interdisziplinäre Herangehensweiseder Semiotik überwindet Fachgrenzen und ermöglicht dadurch einen frischen Blick auf Phänomene, die sonst getrennt voneinander analysiert werden. „Damit kann die Semiotik gerade an einer neu entstehenden Technischen Universität mit verschiedenen Fächerkulturen ein innovatives Bindeglied für interdisziplinäre Forschung bilden“, unterstreicht Jan Georg Schneider mit Blick auf die Zusammenführung des Campus Landau mit der Technischen Universität Kaiserslautern. In seiner Forschung geht es ihm darum, Zeichensysteme unterschiedlicher Fachrichtungen miteinander zu vergleichen und zu schauen, wie man Zeichen in Kombination und im Wechselspiel zueinander untersuchen kann.

Der Einfluss von Sprache und Medien im Unterricht

Was heißt das konkret? Jan Georg Schneider erklärt das anhand seiner Forschungsprojekte. Aktuell untersucht er beispielsweise in einem gemeinsamen Projekt mit Alexander Kauertz, Professor für Physikdidaktik am Campus Landau, den Medieneinsatz im heutigen Physik-Unterricht. Die Untersuchung – gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – erfolgt vor dem Hintergrund einer sich verändernden Medialität. „Wir gehen von einem weiten Medienbegriff aus, bei dem man auch gesprochene und geschriebene Sprache als Medien ansieht“, erklärt Jan Georg Schneider. Dieser wird dann mit dem Einsatz technischer Medien wie Whiteboard oder Video-Clips wie Lernvideos in Verbindung gebracht. „Wir schauen auch, wie der Medieneinsatz mit einer Kompetenzorientierung und mit welchen Einstellungen bei Lehrpersonen verbunden ist“, erklärt Schneider. Sprache und Zeichen sind für den Sprachwissenschaftler eng mit dem Begriff Medium verwoben. „In unserer Kultur ist die Schrift das klassische Medium, mit dem wir strukturiertes Wissen dokumentieren, gesprochene Sprache dagegen gilt eher als Medium der Vorläufigkeit, in dem Strukturen und Wissen entwickelt werden“, so Schneider. Doch mit der Digitalisierung werden diese Grenzen zunehmend fließend. Mittlerweile werden vermehrt auch Videos zur Dokumentation von Wissen verwendet. Umgekehrt hat geschriebene Sprache etwa in der Messenger-Kommunikation ihren starren Charakter verloren. Wie sich diese Entwicklung im Unterricht niederschlägt, nimmt das Projektteam um Schneider und Kauertz in den kommenden Jahren unter die Lupe. 

Multimodalität – wenn viele Zeichen zusammenspielen

Das Zusammenspiel verschiedener Ressourcen von Zeichen – Fachleute sprechen hier von Multimodalität – untersucht Jan Georg Schneider auch zusammen mit seinem Schweizer Linguistikkollegen Martin Luginbühl, Professor an der Universität Basel. Hinter Multimodalität verbirgt sich die Frage, wie verschiedene Zeichenressourcen wie Bilder, Sprache oder aus der Mündlichkeit etwa Gesten, Geräusche und Musik zusammenspielen. Untersucht haben die beiden die Präsidentschaftsdebatten in den USA – zwischen Donald Trump und Hillary Clinton sowie die zwischen Trump und Joe Biden. Dabei haben sie aufgezeigt, wie sehr solche Fernsehduelle von vornherein medial durchgeformt sind. „Wir sehen hier ganz deutlich, wie selbst die Kameraführung und -einstellung mit zur semiotischen Bedeutung beitragen kann“, unterstreicht Schneider. Besonders deutlich sei das im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf gewesen. Beim ersten Duell hat Trump seinen Herausforderer Biden ständig unterbrochen. An einem Punkt blickt Biden nicht mehr zu Moderator Chris Wallace, sondern einen kurzen Moment direkt in die Kamera und fragt die Zuschauer zu Hause „Folks, do you have an idea what this clown is doing?“. Dieses Beispiel verdeutlicht laut Schneider sehr gut die Rolle der medialen Durchformung und des Kontexts, der maßgeblich zur semiotischen Bedeutung beiträgt. „Ich kann die Sprache für sich genommen nicht richtig würdigen, wenn ich nicht betrachte, in welchem Kontext sie auftaucht“. 

Wie bedeutungsschlau ist Künstliche Intelligenz?

Zusammen mit seiner Kaiserslauterer Kollegin, der Sozioinformatikern Katharina Zweig, treibt Jan Georg Schneider die Frage um, was Zeichen für uns im Zuge der Digitalisierung und Digitalität bedeuten – konkret, wie sich die Bedeutung von Zeichen verändern, wenn die Digitalisierung als ein technisches und gleichzeitig soziales Phänomen wahrgenommen wird. Die Sozioinformatik basiert auf der Idee, dass Algorithmen – also die aus der Informatik bekannten Lösungspläne, in denen Eingabedaten in Ausgabedaten umgewandelt werden und uns beispielsweise aufgrund unseres Einkaufverhaltens im Internet auf uns passende Produkte vorschlagen – immer eingebettet sind in soziale Kontexte. „In unserem Projekt beleuchten wir, ob man im Rahmen von Künstlicher Intelligenz überhaupt von Intelligenz und Sinn reden kann“, erklärt Schneider. Anhand von Computersystemen zur Bewertung von Aufsätzen, zum Beispiel dem sogenannten „E-Rater“, überprüfen Schneider und Zweig, wie intelligent solche Systeme sind. Der E-Rater soll bewerten, ob der eingegebene Schüleraufsatz gut ist oder nicht. Doch wie beurteilt ein künstlich intelligenter E-Rater? „Das System weiß von sich aus nichts“, so Schneider. Auf Basis von Textbewertungen, die von Menschen vorgenommen wurden und mit denen das System gefüttert ist, ermittelt der E-Rater, welche Merkmale gut bewertete Aufsätze aufweisen und wie sie sich diesbezüglich von schlechter bewerteten unterscheiden. Das können beispielsweise bestimmte Wörter oder Satzkonstruktionen sein. Je nachdem, ob der zu bewertende Text viele solcher Merkmale aufweist, ordnet der E-Rater den Text als gut oder weniger gut ein, indem er die Note prognostiziert.

Was können solche Systeme leisten und was nicht? „Wir vertreten die These, dass solche Systeme menschliche Bewerter niemals ersetzen können; sie können aber durchaus zur Unterstützung genutzt werden“, so Schneider. Beispielsweise bei Sprachtests wie dem englischsprachigen TOEFL oder dem deutschsprachigen TestDaF können solche Systeme unter Umständen einen guten Dienst leisten. Sie sind recht gut in der Lage, eine Notenprognose abzugeben. Doch solche Systeme haben ihre Grenzen. „Das System kann keine Bedeutung und auch keinen Sinn verstehen“, erklärt Schneider. Dadurch sei es problemlos auszutricksen. Das haben Studien in den USA gezeigt: Dort hatten Forschende den E-Rater mit Texten gefüttert, die keinen Sinn ergaben, aber die für das System messbaren Merkmale für einen guten Text aufwiesen. Das Ergebnis: gute Bewertung durch den E-Rater. Jan Georg Schneider interessiert sich für den semiotischen Aspekt dieses Projekts: Führt man sich vor Augen, dass es kulturell und sozial geprägte Zeichen gibt, dann ist erklärbar, dass solche Systeme an ihre Grenzen stoßen. „Ich glaube, diese Einschränkung kann man auf viele Bereiche der Künstlichen Intelligenz übertragen“, so Schneider. Dem Thema, wie sich der kulturelle Zeichengebrauch in analogen als auch digitalen Kontexten verändert, will sich Schneider in den kommenden Jahren intensiv widmen – unter anderem in seiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS).

Semiotik – ein weites Feld

Mit der Bedeutung von Zeichen und Zeichensystemen beschäftigen sich ganz unterschiedliche Disziplinen – nicht nur die Sprachwissenschaft. Jan Georg Schneider ist seit September 2021 DGS-Vorsitzender. Unter ihrem Dach bündelt die Gesellschaft 17 Sektionen, die sich der Frage nach dem Gebrauch und der Bedeutung der Zeichen aus so unterschiedlichen Richtungen wie „Comic“, „Körper“, „Mode“ oder „Wirtschaft“ nähern. Sein Amt und die damit verbundenen Möglichkeiten will Jan Georg Schneider zusammen mit Georg Albert, ebenfalls in Landau und DGS-Geschäftsführer, dazu einsetzen, semiotische Ansätze an der neuen Technischen Universität in Rheinland-Pfalz als Nährboden für interdisziplinäres Forschen und Lehren anzubieten und zu stärken. Vorstand, Beirat und die gesamte Mitgliedschaft der DGS arbeiten auf einen internationalen Kongress hin, der 2024 an der dann neu formierten TU in Landau und Kaiserlautern ausgetragen wird. „Bei der Tagung wird es um die Verbindung von Zeichen, Kulturen und Digitalität gehen“, verrät Schneider.

Die Deutsche Gesellschaft für Semiotik

Die Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS) widmet sich der Erforschung semiotischer Phänomene, der semiotischen Lehre, Forschung und Praxis sowie der Nachwuchsförderung im Bereich der Semiotik. Nähere Informationen zur Arbeit der DGS auf deren Website und auf Facebook.

Prof. Dr. Jan Georg Schneider hat Philosophie und Germanistik an der RWTH Aachen studiert. 2002 wurde er mit einer sprachphilosophischen Arbeit über Wittgenstein und Platon promoviert. 2007 schloss sich die Habilitation über Sprachmedialität an. Es folgten Vertretungs- und Gastprofessuren in Namur (Belgien), im niederländischen Leiden und in Paris. Seit 2010 ist er Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. 

Studien & Literatur (eine Auswahl)

Luginbühl, Martin / Jan Georg Schneider (2020): Medial Shaping from the Outset: On the mediality of the Second Presidential Debate, 2016. In: Journal for Media Linguistics (jfml), 3.1/2020, 57–93.

Schneider, Jan Georg (2018): Medialität. In: Frank Liedtke / Astrid Tuchen (Hgg.): Handbuch Pragmatik. Stuttgart: J. B. Metzler, 272-281.

Schneider, Jan Georg (2017): Medien als Verfahren der Zeichenprozessierung. Grundsätzliche Über­­legungen zum Medienbegriff und ihre Relevanz für die Gesprächsforschung. In: Gesprächs­for­schung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 18 (2017), 34-55.

Schneider, Jan Georg (2016): Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie. In: Ludwig Jäger / Werner Holly / Peter Krapp / Samuel Weber / Simone Heekeren (Hgg.): Sprache – Kultur – Kommunikation. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft. Berlin / Boston: de Gruyter Mouton (= HSK 43), 680-687.

Schneider, Jan Georg (2016): Sprache – Bild – Text. Ein linguistisch-semiotischer Überblick. In: Gabriela Scherer / Steffen Volz (Hgg.): Im Bildungsfokus: Bilderbuchrezeptionsforschung. Trier: WVT (= KoLA 15), 11-33.

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