Grimm’sche Märchen – und die Frage, woher kommen die Erzählungen?

Die Märchen der Brüder Grimm haben bis heute nichts an Faszination verloren. Lassen sie uns doch an eine gerechte Welt glauben, in der immer alles gut ausgeht. Am Campus Landau wird zu den literarischen Quellen der Texte geforscht. Foto: Colourbox

Hänsel und Gretel irren durch den Wald, treffen auf eine Hexe. Schneewittchen findet Zuflucht bei den sieben Zwergen. Rapunzel lässt ihr Haar hinab, sodass der Königssohn zu ihr in den Turm hinaufsteigen kann. Fast jeder kennt diese Geschichten: Es sind Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Seit Generationen werden sie erzählt, Kindern vorgelesen. Denkt man als Erwachsener zurück, so vermitteln sie noch im Nachhinein ein Gefühl von Geborgenheit und wohligen Kindheitserinnerungen. Doch nicht nur die Geschichten an sich sind märchenhaft – Mythen ranken sich auch um deren Entstehung: So hieß es lange, dass eben jene Erzählungen auf mündlichen Überlieferungen aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit beruhen. 

Doch das sei ein Fehlurteil, sagt Professor Dr. Lothar Bluhm, der im Bereich Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft am Campus Landau forscht und lehrt. Vielmehr seien die Texte aus „unterschiedlichen literarischen Gattungen hervorgegangen“: Jacob und Wilhelm Grimm haben Texte redaktionell bearbeitet und nach ihrer Vorstellung von Volkspoesie umgeformt. Zwar glaubten die Brüder selbst, dass sie auf mündliche Traditionen zurückgegriffen hätten, „aber die Erzähler, die sie als Quellen genommen haben, gaben selbst Texte aus der Literatur wieder.“

Die mündliche Überlieferung ist ein Irrtum

Doch wenn nicht aus mündlichen Überlieferungen – woher stammen die Märchen? Was sind ihre literarischen Quellen? Und in welchen historischen Kontext sind die Ursprungsgeschichten einzuordnen? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigt sich Lothar Bluhm im Rahmen seiner Forschung. Er untersucht, wie die Grimm`schen „Kinder-und Hausmärchen“ entstanden sind – er studiert die Erzählungen in früheren und späteren Fassungen. Analysiert, ob und in welcher Form die Geschichten bereits in vorangegangener Literatur anzutreffen sind. 

Als ein Beispiel nennt er das Märchen „Die ungleichen Kinder Evas“: Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben wurden, bekommen viele Kinder, schöne und hässliche. Als sich Gott zum Besuch ankündigt, putzt Eva das Haus, versteckt die hässlichen Kinder. Gott segnet die schönen Kinder, erklärt sie zu Adligen und Gelehrten. Da holt Eva auch die hässlichen Kinder. Doch sie bekommen einfache Berufe: Gott macht aus ihnen Bauern, Handwerker und Tagelöhner. Eva versteht das nicht. Gott erklärt, es brauche alle Stände, damit sie einander erhalten – und ein jeder seinen Platz in der Welt hätte. 

„An diesem Beispiel lässt sich eine typische Entstehungsgeschichte für Grimm’sche Märchen aufzeigen“, erklärt Bluhm. Wilhelm Grimm habe die Erzählung 1843 in die fünfte Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ eingefügt. „Er griff auf die Umarbeitung eines Schwanks des Nürnberger Bürgerpoeten Hans Sachs aus dem Jahr 1558 zurück, die sein Bruder Jacob für eine wissenschaftliche Studie angefertigt hatte.“ 

Die Geschichte von der Gottgegebenheit der Stände war im 16. Jahrhundert populär – wurde unter anderem in Komödien aufgegriffen. „Aber die Literatur des 16. Jahrhunderts hatte den Stoff ebenfalls nicht selbst erzeugt, sondern aus der lateinischen Predigtliteratur des vorangegangenen Jahrhunderts entnommen.“ Die eigentliche Quelle des Stoffs sei ein Predigttext aus dem 15. Jahrhundert, sagt Lothar Bluhm – und ordnet den Hintergrund zugleich historisch ein: „Im 15. Jahrhundert war Landflucht ein Thema. Die Leute zog es in die Städte.“ Die Intention der Geschichte sei es zu sagen, Gott hat alle Stände erschaffen. Alle werden gebraucht. Auch die Bauern, die oft in Unfreiheit und Not auf dem Land leben und arbeiten. „Und dort sollten sie gefälligst auch bleiben!“

Literarische Vorlagen wurden übernommen – und mehr oder weniger verändert

Bei der Übernahme von Texten aus literarischen Quellen seien zwei Strategien erkennbar, differenziert Lothar Bluhm weiter. Im einfachen Fall handelt es sich um eine mehr oder weniger direkte Textübernahme durch die Grimms. Als Beispiel nennt Bluhm die Märchenerzählung „Jorinde und Joringel“, die fast wortwörtlich aus einem autobiografischen Roman von 1777 entnommen worden sei: „Verfasser war der damals bekannte Johann Heinrich Jung-Stilling“ – der Titel des Romans lautete „Henrich Stillings Jugend“. In diesem Roman sei der spätere Märchentext eine Binnenerzählung. „Durch die Herausnahme verliert die Binnenerzählung ihren Kontext.“ Ein Vorgang, der als „Dekontextualisierung“ bezeichnet werden könne. 

Doch es gebe laut Bluhm auch Märchen, die von den Brüdern Grimm stärker verändert worden seien: Rapunzel sei ein Beispiel dafür. Die Geschichte sei erstmals 1790 in der Unterhaltungsliteratur zu finden. Ein Feen-Märchen, das laut Bluhm nach französischem Vorbild entstand. Der Text wurde – und zwar mit jeder weiteren Neu-Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ – verändert, purifiziert sozusagen. „Alles Sexuelle wurde herausgenommen“, erklärt Bluhm.

Und auch das typisch Volkstümliche brachten die Grimms in ihre Märchen: Redewendungen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch wurden aufgenommen. Als etwa die Königstochter im Froschkönig-Märchen über den Verlust ihres goldenen Balls klagt, antwortet ihr der Frosch redensartlich: „du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte.“ Wilhelm Grimm selbst bekannte sich später dazu, er habe fortwährend auf „Sprüche und eigentümliche Redensarten des Volks gehorcht“ und sie dann in die Märchen eingefügt. 

Die Entstehung der Grimm`schen Märchen im historischen Kontext

Als Wissenschaftler beschäftigt sich Lothar Bluhm zugleich damit, wie die Entstehung der Grimm`schen Märchen historisch einzuordnen ist. Dazu sollte man wissen: Die Brüder Grimm wirkten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damals manifestiert sich, so erklärt es Bluhm, eine Vielfalt an Projekten, die Nationalität kulturell zu begründen versuchten. „Dass wir heute sagen, wir sind Deutsch, geht auf diese Zeit zurück.“

Im frühen 19. Jahrhundert vollzog sich eine moderne Nationenbildung, die in Deutschland, aber auch in anderen Ländern stattfand. Es entstand die Vorstellung von einer eigenen nationalen Identität. Zu dieser gehörten auch eine eigene Sprache, Geschichte und Kultur. Das Zusammenstellen von sogenannten Volksmärchen durch die Grimms ist dabei Teil einer Reihe von literarischen Projekten, mit der junge Gelehrte versuchten, zu diesem Umbruch beizutragen, indem sie eine spezifisch deutsche Kulturgeschichte kreierten.

Lothar Bluhm spannt einen noch weiteren Bogen: Wissenschaft in der Art und Weise, wie wir sie heute kennen, entstand erst in dieser Zeit. „Gelehrtes Wissen gab es auch vor 1800. Aber nicht so spezialisiert.“ Erst nach 1800 begann eine Professionalisierung. Ein neues Wissenschaftssystem bildete sich – in dem die jungen Gelehrten Wilhelm und Jacob Grimm ihren Platz suchten. Am Ende ihres Lebens galten sie als Literatur- und Kulturwissenschaftler – und als Wegbereiter einer modernen Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur – werden gar als Väter der Germanistik bezeichnet. 

„Ihre Sammlung von Märchen war damals vor allem ein Wissenschaftsprojekt“, ergänzt Lothar Bluhm. Ein Projekt also, das zunächst gar nicht für Kinder gedacht war. „Die Grimm´sche Sammlung entstand vor allem aus volkskundlichem Interesse – und wurde entsprechend mit märchenkundlichen Kommentaren veröffentlicht.“

Die Märchen-Sammlung war zunächst ein Wissenschaftsprojekt 

Erst mit der weiteren Ausgestaltung wurden – so würde man es in der heutigen Marketingsprache wohl sagen – neue Zielgruppen erschlossen. Dabei ging es auch darum, das Projekt zu einem kommerziellen Erfolg zu führen. Lothar Bluhm: „Die Märchen blieben nicht nur eine Dokumentation über ein identitätsstiftendes, nationalkulturelles Erzählerbe, sondern wurden auch ein Unterhaltungs-, Erziehungs- und infolgedessen auch ein Kinderbuch.“ 

Kinderliteratur, der man selbst Jahrzehnte später einen Zweck zuschrieb, wie Lothar Bluhm mit Blick auf die weitere historische Entwicklung ergänzt: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der Wilhelminischen Zeit, also der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. zwischen 1888 und 1918, legte man zunehmend Wert auf nationales Denken: Junge Deutsche sollten an deutsche Literatur herangeführt werden. „Grimm`sche Märchen waren dafür ideal. Ihre Popularität stieg zu dieser Zeit enorm.“

Märchen bieten viel Spielraum für Interpretationen

Doch warum sind Märchen selbst heute noch populär? Lothar Bluhm meint: „Märchen sind offen für verschiedene Deutungen.“ Sie seien aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst. „Man kann alles damit machen.“ Selbst die Psychologie versucht Märchen heutzutage in ihrem Sinne zu interpretieren: So wird Aschenputtel durchaus genutzt, um den Umgang mit Mobbing zu thematisieren. Bei Frau Holle sei das Stockholm-Syndrom erkennbar, ist in Literatur zu lesen, die versucht, Märchen psychologisch zu deuten. 

Lothar Bluhm kann solchen Deutungen wenig abgewinnen. Dennoch zeigen sie, welchen Spielraum an Interpretationen die populären Märchen zulassen. Und es gebe einen weiteren Grund, warum wir von Märchen so fasziniert sind, ergänzt Bluhm: „Es sind Wunscherfüllungs-Geschichten.“ Märchen geben Orientierung, sie ordnen die Welt. „Sie sagen uns, liebe Leserin, lieber Leser, am Ende wird alles gut.“ Auch das mache ihre Beliebtheit aus.

„Durch die Säkularisierung wurden wir hinausgeworfen in die Welt“, ordnet es Bluhm erneut in einem größeren Kontext ein. Ein Gefühl der mangelnden Sicherheit sei dadurch entstanden. Eine Angst, die das Kultursystem aufgreift: „Märchen bieten Zuflucht und Trost.“ Den Rückhalt, in einer heilen Welt zu leben. Ein Erfolgskonzept, dessen sich bekanntermaßen auch viele Hollywoodfilme bedienen. „Wir brauchen alle unsere Kompensation“, ergänzt Lothar Bluhm.

Märchen erreichen ein großes Publikum – und das, so berichtet der Professor weiter, beziehe auch seine Studierenden mit ein: „Lehrveranstaltungen mit Bezug zu Märchen finden immer regen Anklang. Sie treffen auf deutlich mehr Resonanz, als wenn ich beispielsweise eine Veranstaltung zum `Drama im 19. Jahrhundert` anbieten würde.“

Letzter Bezugspunkt einer allgemein literarischen Bildung

Als Lehrender seien Märchen für ihn aus einem weiteren Grund bedeutsam, erzählt Lothar Bluhm, der zukünftige Deutsch-Lehrkräfte ausbildet: „Früher zu meiner Studienzeit war es selbstverständlich, dass man an die Uni kam und mythologische Kenntnisse besaß. Genauso wie auch Bibel-Kenntnisse. Und ein gewisses Wissen über die deutsche und die Weltliteratur.“ Dieses Wissen sei bei heutigen Studierenden weniger zu finden: „Mythologische Kenntnisse und Bibelwissen gehen gegen null.“ Bei deutscher Literatur und Weltliteratur seien Restbestände eines Abiturwissens zu finden, die aber oft ohne inneren Zusammenhang seien. Doch mithilfe der Märchen findet er einen Anknüpfungspunkt: „Märchen kennen Studierende aus ihrer Kindheit. Auf diese Weise habe ich einen Ansatzpunkt. Einen letzten Bezugspunkt zu einer allgemeinen literarischen Bildung.“ Daran könne angeschlossen werden. Dann ließen sich Verbindungslinien innerhalb der großen Literaturgeschichte aufzeigen – bis zu Grimms Märchen und von diesen ausgehend bis in die Literatur heute.

Märchen sind also ein Türöffner zu vielen weiteren literarischen Fragen. Doch zurück zu Bluhms Forschung: Wie geht es weiter? Was will er über die Märchen der Brüder Grimm noch herausfinden? Bluhm schmunzelt angesichts der Fülle, die diese Frage aufwirft. Mit seiner Forschung sei er nur „ein Glied in einer langen Kette.“ Und er erklärt weiter: „mit Grimms Märchenforschung ließen sich mehrere Leben füllen.“ Viele Detailfragen müssen weiter geklärt werden, Bausteine miteinander verknüpft werden. Erklärmodelle könnten Text für Text durchbuchstabiert werden. Noch viel gibt es zu tun für Forschende in diesem Bereich. Doch eines ist gewiss: Das Interesse an Märchen wird nicht schwinden. Auch dank eines wohligen Gefühls an Kindheitserinnerungen, die so gut wie jeder damit verbindet: Das Gefühl, trotz aller Widrigkeiten im Leben, es gibt immer ein Happy-End.

Prof. Dr. Lothar Bluhm studierte von 1979 bis 1985 Germanistik, Geschichte, Erziehungswissenschaften und Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Nach seinem Ersten Staatsexamen arbeitete er als Dozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal. 1996 habilitierte er mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung zum Kommunikationssystem der frühen Deutschen Philologie. Im Jahr 2002 folgte er einem Ruf an die Universität Oulu in Finnland. Seit 2006 ist Lothar Bluhm Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft am Campus Landau. 2008 wurde er in den Wissenschaftlichen Rat der Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. gewählt. Er ist seit vielen Jahren Hauptherausgeber einer der wichtigsten germanistischen Fachzeitschriften – Wirkendes Wort“. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt es hier.

Buch-Veröffentlichungen:

Märchen als Literatur aus Literatur – Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Verlag: Springer Berlin, 2022

(mit Heinz Rölleke): „Redensarten des Volks, auf die ich immer horche“. Märchen – Sprichwort – Redensart. Zur erzähltechnischen Ausgestaltung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Erweiterte neue Ausgabe. Trier: WVT, 2020.  

Neben vielen Publikationen zu den Märchen und zur Romantik gibt es von Prof. Dr. Lothar Bluhm eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum Gesamtbereich der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein besonderes Faible zeigt er für die Geschichte ausgesuchter ‚Sprachbilder‘ in der Literatur, aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch. So hat er sogar ein ganzes Buch über die Redewendung geschrieben, dass man „auf verlorenem Posten“ stehe:

Auf verlorenem Posten. Ein Streifzug durch die Geschichte eines Sprachbildes. Trier: WVT, 2012.

Er verfolgt darin an einer Vielzahl von Beispielen die Sprachverwendung von der Frühen Neuzeit und der Barockliteratur bis in die Literatur und die Medien unserer Zeit. Das Buch ist 2012 erschienen, aber Prof. Dr. Lothar Bluhm sammelt immer noch weiter nach ‚verlorenen Posten‘ in der Literatur und darüber hinaus.

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