„Die Dosis macht das Gift“ – warum auch Studierende unter Helikoptereltern leiden

Den meisten Mittzwanzigern tut es gut, wenn Eltern nach wie vor Interesse an ihrem Leben zeigen. Doch nimmt das Überhand, dann kann sich das negativ auswirken. Am Campus Landau wird dazu geforscht. Foto: Colourbox

Bücher mit Titeln wie „Verschieben Sie die Deutscharbeit, – mein Sohn hat Geburtstag!“ oder „Ich muss mit auf Klassenfahrt – meine Tochter kann sonst nicht schlafen!“ oder auch „Stellen Sie die Sirenen aus – mein Kind macht Mittagsschlaf!“ verkaufen sich hierzulande hunderttausendfach und führen gar Bestseller-Listen an. In diesen Büchern geht es um sogenannte Helikoptereltern: Eben jene Eltern, die – im übertragenen Sinn – wie ein Polizei-Hubschrauber über einem Großereignis kreisen. Nur, dass das Großereignis in diesem Fall das eigene Kind ist. Diese Mütter und Väter treiben einen erheblichen Aufwand, um so gut wie jeden Schritt im Leben ihrer Sprösslinge nicht nur zu begleiten – sondern um ihn regelrecht zu kontrollieren und zu beeinflussen.

„Das geht in viele Lebensbereiche hinein“, sagt die Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin Dr. Stephanie Reuter, die am Campus Landau zum Thema Helikoptereltern forscht. „Da geht es um schulische Belange und Fragen der Ausbildung“. Aber auch bei der Freizeitgestaltung und beim Treffen mit Freundinnen und Freunden schweben diese Mütter und Väter sozusagen über dem Geschehen, um jederzeit eingreifen zu können. Eltern, die ihre Kinder überbehüten: Ein, so scheint es, relativ neues Phänomen, das hierzulande immer öfter medial und unterhaltsam aufbereitet wird – und das nicht nur in Büchern. 

Die Wissenschaft hat diese ganz besondere Eltern-Kind-Beziehung ebenfalls entdeckt: Erstmals in den 1990er-Jahren wurde der Begriff „Helikopter-Erziehung“ von US-amerikanischen Soziologen geprägt. „Seit etwa zehn Jahren wird das Thema in den USA immer intensiver erforscht“, ergänzt Stephanie Reuter, „im deutschsprachigen Raum gibt es dazu bislang allerdings kaum Arbeiten.“ Doch sie will das ändern: Stephanie Reuter hat erste Studien zum Thema durchgeführt – und hat weitere in Planung.

Junge Erwachsene und ihre Helikoptereltern

Dabei gehe es ihr nicht um kleine Kinder und Jugendliche, wie sie sagt. Vielmehr liegt Reuters Forschungsinteresse auf jungen Erwachsenen – im Alter von etwa 18 bis 25 Jahren. „Ein Alter, in dem man eigentlich erste eigene Schritte im Leben gehen und das Elternhaus verlassen möchte“, wie die Psychologin weiß. Doch manche Eltern dieser „großen Kinder“ lassen sich zweifelsfrei als Helikoptereltern bezeichnen: Sie sind im Leben ihrer erwachsenen Sprösslinge sehr präsent – und versuchen, deren Entscheidungen und Lebensführung zu beeinflussen: „Das Verhalten dieser Eltern entspricht damit nicht dem Entwicklungsstand ihrer Kinder“, fasst Stephanie Reuter die Situation zusammen.

Im Rahmen ihrer Untersuchungen befragt Reuter Studierende über Online-Fragebögen: Wissen will sie von den jungen Menschen beispielsweise, wie oft und in welcher Form sie Kontakt zu ihren Eltern haben. Ob und wie intensiv die Eltern an ihrem Alltag Anteil nehmen. Ob und inwieweit sich die Eltern für die akademischen Leistungen, ihre sozialen Beziehungen oder Freizeitaktivitäten interessieren. Und auch, ob Eltern Entscheidungen ihrer Kinder oder deren Lebensführung bewerten und aktiv zu beeinflussen versuchen. Stephanie Reuter: „Mit diesen Fragen wollen wir das Ausmaß etwaiger Einmischungen und Autonomie-Einschränkungen ausloten.“

Später Schwierigkeiten bei zwischenmenschlichen Beziehungen – und im Arbeitsleben

Genau jene Autonomie-Einschränkungen und deren Folgen sind es, die für die Wissenschaft relevant sind: Stephanie Reuter berichtet, dass zahlreiche US-Studien in den vergangenen Jahren gezeigt haben, dass Helikoptereltern-Verhalten ungünstige Auswirkungen auf die so erzogenen jungen Menschen haben kann. In vielen Bereichen habe der Nachwuchs von Helikoptereltern später Probleme, wie Stephanie Reuter ausführt: „Sie nehmen mehr Medikamente, haben ein erhöhtes Risiko für Ess- und Angststörungen oder Depressionen.“ Betroffen sei auch das Sozialverhalten: „Den jungen Menschen fällt es mitunter schwerer, Kontakte zu Gleichaltrigen aufzubauen. Sie gehen auch später Paarbeziehungen ein.“ Zudem zeigen sie in Studium und Ausbildung weniger Engagement und ihre akademischen Leistungen seien schwächer.

Auch auf das spätere Erwerbsleben könne es sich auswirken, wenn man ein Kind von Helikoptereltern ist, wie Stephanie Reuter weiß: „Hier zeigte sich in den US-Untersuchungen, dass sie bei der Arbeit weniger einsatzbereit waren und Aufgaben gerne an andere delegieren.“ Die eigene Bedürfnisbefriedigung stehe im Vordergrund: „Sie gehen weniger auf die Bedürfnisse von anderen ein.“ Überhaupt zeigten sich narzisstische Tendenzen.

Ist der Nachwuchs von Helikoptereltern also schlecht vorbereitet auf die Welt, in der diese jungen Menschen einst leben und bestehen müssen? Stephanie Reuter möchte mit ihrer Forschung Erkenntnisse für den europäischen Raum gewinnen und feststellen, ob es bei uns ähnlich sein könnte wie in den USA. Also, ob und in welchen Umfang Helikopter-Verhalten hierzulande auftritt und „junge Erwachsene unter dem übergriffigen, autonomie-einschränkenden Verhalten ihrer Eltern – und vor allem unter den damit einhergehenden Folgen leiden“. 

„Mit unserer Forschungsarbeit wollen wir den Themenbereich zudem erweitern und fragen, was sind eigentlich die Motive der Eltern.“ Die Paradoxie des elterlichen Handelns interessiere sie: „Die Eltern wollen etwas Positives für ihre Kinder erreichen, sie wollen für deren Glück und Lebenserfolg sorgen.“ Doch letztendlich verkehre sich genau das ins Gegenteil um. In zukünftigen  Untersuchungen möchte Stephanie Reuter zudem herausfinden, ob die Eltern ihr Helikopter-Verhalten überhaupt wahrnehmen. Und wie Eltern und Kinder ihre Eltern-Kind-Beziehung einschätzen.

Was sind die Motive der Eltern?

Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass Eltern ihre Kinder überbehüten? Stephanie Reuter berichtet, dass es dazu unterschiedliche Hypothesen gebe: „Die eigenen Erziehungserfahrungen in  der Ursprungsfamilie spielen eine Rolle“. Also ob die Eltern selbst einst überfürsorglich aufgewachsen sind. „Es stellt sich dabei beispielsweise die Frage, ob sich deren Eltern bei der Berufswahl oder der Partnerwahl eingemischt haben.“

Weitere Gründe für das Verhalten der Helikoptereltern können auf einer allgemeinen Ängstlichkeit und Sorge um die Nachkommen beruhen. Man möchte sein Kind schützen, vor den vielen schlechten Einflüssen und Gefahren in der Welt. „Und, dann gibt es sicher auch Eltern, bei denen ist das Kind eine Art Projekt. Diese Eltern messen ihren elterlichen Erfolg am Erfolg ihres Kindes. Deshalb müsse es, so die Vorstellung der Eltern, ganz besonders gut gelingen. „Das könne in der eigenen Biografie begründet sein: Das Kind soll Dinge erreichen, die den eigenen Eltern vielleicht nicht gelungen sind. Erfolge, die ihnen selbst verwehrt blieben.

„Die Dosis macht das Gift“

Grundsätzlich seien liebevolle Zuwendung und Fürsorge etwas Gutes, ordnet es Stephanie Reuter weiter ein. Die erziehungspsychologische Forschung belege eindeutig, „dass Interesse und Unterstützung vonseiten der Eltern wichtige Grundlagen einer positiven kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung von Heranwachsenden“ seien. Auch das Selbstbewusstsein werde so gestärkt. Aber „wenn es zu viel wird, dann ist das schlecht. Die Dosis macht das Gift.“

Doch was könnte man Eltern von jungen Erwachsenen aufgrund der bisherigen Befunde raten? Was sollten sie tun, wenn sie ihren Kindern einerseits Liebe und Fürsorge mitgeben möchten – wenn sie andererseits aber keine Helikoptereltern sein wollen? Stephanie Reuter meint: „Bei allem, was man tut, darf man die Perspektive seines Kindes nicht aus den Augen verlieren.“ Ein offener Austausch sei nötig: „Die Eltern sollten sich nur in dem Ausmaß beteiligen und einmischen, wie das von den jungen Erwachsenen gewünscht wird.“

Eltern müssten akzeptieren, dass Entscheidungen im Leben – für oder gegen etwas – im Verantwortungsbereich des jungen Menschen liegen. „Sie sind es, die die Entscheidungen treffen und ja auch letztendlich mit ihnen leben müssen.“

Und was können junge Erwachsene tun, um sich vom Verhalten ihrer Helikoptereltern zu lösen? Das sei natürlich nicht ganz einfach, sagt Stephanie Reuter. „Hier geht es um tief verwurzelte Bindungen. Um die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Die jungen Erwachsenen möchten unabhängig und selbstbestimmt leben, aber die Eltern ja auch nicht verletzen oder im schlimmsten Fall die Beziehung zu ihnen gefährden.“ Eine ambivalente Situation sei das, die die Betroffenen durchaus belastet. Wie US-Studien zeigen, könne hier eine psychotherapeutische Unterstützung hilfreich oder sogar notwendig sein: „Etwa wenn es darum geht, den Mut zu finden, sich von den Eltern abzugrenzen.“ Oder um Strategien zu entwickeln, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Letztendlich gehe es darum, sich zu lösen, „und zwar in einer Art und Weise, die man als sozial verträglich bezeichnen könnte“.

Eltern wollen wissen, wie sie im Vergleich dastehen

Vieles ist bislang noch nicht bekannt über das junge Forschungsgebiet. Etwa, wie weit das Phänomen überhaupt verbreitet ist. Stephanie Reuter: „In US-Studien variieren die Angaben stark.“ Fünf bis 60 Prozent der Eltern könnten demnach Helikoptereltern sein – eine weite Spanne, die es gilt, in den nächsten Jahren genauer einzugrenzen. „Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sich diese Zahlen so auch bei uns finden lassen“, ergänzt Stephanie Reuter, „oder ob es sich um ein Phänomen handelt, das bei uns vor allem medial hochgespielt wird.“ Denn es gebe durchaus Gründe, weshalb das Thema bei einer breiten Öffentlichkeit so gut ankommt, warum entsprechende Bücher Bestseller-Listen anführen: „Die Beschreibungen extremer elterlicher Einmischungen haben einerseits eine unterhaltsame, aber auch eine voyeuristische Komponente“, sagt die Psychologin. „Vielen geht es auch darum, das eigene Verhalten zu hinterfragen. Eltern wollen wissen, wie stehe ich im Vergleich da. Bewege ich mich mit meinem Verhalten noch im normalen Rahmen.“

Könnte das Phänomen vielleicht aber auch deshalb verstärkt ins Interesse rücken, weil Eltern im Durchschnitt heutzutage älter sind als vielleicht noch vor 20, 30 Jahren? Mit Ende 30 oder Anfang 40 ein Kind zu bekommen ist, heutzutage keine Seltenheit mehr. In der medialen Berichterstattung wird ein Zusammenhang von spätem Elternglück und Helikopter-Verhalten immer wieder aufgegriffen. „Das ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen“, sagt Stephanie Reuter. „ Helikoptereltern-Verhalten korreliert mit Ängstlichkeit. Und Ängstlichkeit nimmt im Alter zu.“

Doch vieles muss in den nächsten Jahren noch erforscht werden. Mit ihrer Arbeit möchte Stephanie Reuter zugleich den Transfer zu betroffenen Eltern erreichen. In möglichen Elternbildungsprogrammen etwa könne aufgeklärt werden: „Wenn man mal um das Kind kreist, dann ist das nicht weiter dramatisch. Wenn das aber der Grundtenor einer Eltern-Kind-Beziehung ist, dann kann das negative Konsequenzen für den Nachwuchs haben. Dessen sollten sich Eltern bewusst sein.“

Dr. Stephanie Reuter studierte Erziehungswissen- schaften und Psychologie an der Philipps-Universität Marburg. Beides schloss sie jeweils mit einem Diplom ab. Sie promovierte am Campus Landau und ist aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. Zuvor war sie von 1994 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Allgemeine und Pädagogische Psychologie. Ihre Interessenschwerpunkte sind familiäre Sozialisations- und Erziehungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Entwicklung von Heranwachsenden. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Untersuchung von Gründen für sowie Folgen von elterliche(r) Überbehütung und Kontrolle ( = „Helikopter“-Erziehungsverhalten).

Wissenschaftliche Veröffentlichungen von Stephanie Reuter gibt es hier.

Auf diese wissenschaftlichen Studien beruft sich Stephanie Reuter bei ihren Aussagen zu den bisherigen Erkenntnissen:

Leung, J. T., & Busiol, D. (2016). Growing up in a “Greenhouse”. In Children and Adolescents: Future Challenges. Nova Science Publishers, Inc.

Schiffrin, H. H., Godfrey, H., Liss, M., & Erchull, M. J. (2015). Intensive Parenting: Does it Have the Desired Impact on Child Outcomes? Journal of Child and Family Studies24(8), 2322–2331. https://doi.org/10.1007/s10826-014-0035-0

Wang, N. (2019). Emerging adults’ received and desired support from parents: Evidence for optimal received–desired support matching and optimal support surpluses. Journal of Social and Personal Relationships36(11–12), 3448–3470.

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