Ganz neue Einblicke: Wie Bilderbücher das Interesse für Literatur und Kultur wecken 

In Bilderbüchern steckt mehr, als mancher denkt. Allein schon das Umblättern kann die Gedankengänge ganz schön herausfordern. Am Campus Landau wird dazu geforscht. Foto: Colourbox

„Max und Moritz“ oder vielleicht doch der „Struwwelpeter“? Ein Lieblingsbuch aus der Kindheit hat fast jeder  – die Präferenzen dabei sind sehr subjektiv. Eindeutig objektiv indes sind die Verkaufszahlen von Kinderbüchern weltweit. Ein Zauberlehrling führt die Bestenliste an: Die Harry Potter-Reihe verkaufte sich insgesamt mehrere 100 Millionen Mal. Es folgt „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint Exupéry – dieses Werk ging bislang 140 Millionen Mal über eine Ladentheke – oder war gewünschtes Produkt bei einer Online-Bestellung. Auf den weiteren Plätzen folgen die Titelhelden „Der kleine Hobbit“, „Anne auf Green Gables“, „Black Beauty“, „Heidi“ und „Die Geschichte von Peter Hase“ – die sich bislang etwa 45 Millionen Mal verkaufte. Eine Besonderheit: Die Autorin Beatrix Potter hatte das Buch nicht nur geschrieben, sondern auch aufwendig illustriert. So entstand ein wunderbares Werk, das Kinderherzen nicht nur an Ostern höherschlagen lässt.

Doch Bilderbücher und Kinderbücher bieten nicht nur Unterhaltung und schöne Vorlese-Momente, sie sind auch Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Professorin Dr. Gabriela Scherer, die im Bereich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik forscht und lehrt, beschäftigt sich intensiv damit: Im Rahmen ihrer Forschung untersucht sie, wie Bilderbücher wahrgenommen werden, Rezeptionsforschung nennt sie es. Unter anderem will sie so herausfinden, ob und wie sich Bilderbücher verstärkt im Schulunterricht einsetzen lassen. Denn, so sagt sie, für die Klassenstufen 1 bis 6 sei das durchaus vorstellbar.

Bilderbücher können erste Ansätze von Literatur-Interpretationen ermöglichen

Fragt man nach konkreten Projekten, so berichtet Gabriela Scherer, dass sie – gemeinsam mit ihrem Team – beispielsweise sogenannte „page breaks“ untersucht: „Es geht um Seitenumbrüche. Oder anders gesagt, was passiert, wenn man ein Bilderbuch umblättert.“ Denn durch das Umblättern könne eine Geschichte Fragen aufwerfen, Platz für Interpretationen liefern. Gabriela Scherer nennt ein Beispiel: „Stellen Sie sich ein Bilderbuch vor. Auf einer Seite sehen Sie Leute in Kleidern. Dann blättern Sie um. Und nun sehen Sie auf der nächsten Seite, wie all diese Leute ohne Kleidung im Wasser sind, in einem See baden. Was ist zwischenzeitlich passiert? Und warum? Hätte auch etwas anders passieren können?“ Das Ganze sei eine Art „Cliffhanger“, wie wir es aus Fernsehserien kennen. „Vielleicht ist man nach dem Umblättern auch überrascht, weil man eigentlich geglaubt hat, die Geschichte entwickelt sich anders.“

„Nun geht es darum“, führt es Gabriela Scherer weiter aus, „diesen Seitenumbruch zu interpretieren. Kohärenzen müssen hergestellt – und Interferenzen müssen gezogen werden.“ Für das genannte Beispiel könne das bedeuten: Erkennen, dass etwas anders ist. Und gleichzeitig die beiden Bilder in einen Zusammenhang bringen.

Genau mit dieser Aufgabe forderte ihr Team – genauer gesagt eine ihrer Doktorandinnen – Kinder in einer Schulklasse heraus. Mit Gruppen von zwei bis drei Schülerinnen und Schülern haben sie sich Bilderbücher mit solchen Seitenumbrüchen angeschaut. „Wir haben untersucht, wie die Kinder das aufnehmen und verstehen“, erklärt Gabriela Scherer. „Und dabei haben wir beobachtet, wie sie laut denken.“ Wie sie die Geschehnisse vor und nach dem Seitenumbruch miteinander diskutieren. „Ich verstehe, was Du meinst“, sei etwa beim Beobachten der Gespräche zu hören gewesen.   

Und genau das seien interessanterweise die Ansätze, mit denen man später auch im Literaturunterricht – oder in Literaturzirkeln – gelesene Bücher und die darin erzählten Geschichten bespricht. „Man analysiert, was ist eigentlich passiert. Welche Schlüsse kann man daraus ziehen? Wie lassen sich Geschehnisse deuten, die im Text vielleicht nicht explizit ausgeführt werden und deren Zusammenhänge nur zwischen den Zeilen angedeutet sind?“ Oder anders gesagt: Mithilfe von Umblätterstellen in einem Bilderbuch lassen sich bei Kindern erste Ansätze zum Interpretieren von Literatur wecken. Gabriela Scherer: „Und sie erkennen dabei auch, dass man manchmal zurückblättern muss beim Lesen, um Zusammenhänge richtig oder überhaupt zu verstehen.“ Aber, und darauf weist die Literaturprofessorin ausdrücklich hin: „Das funktioniert natürlich nicht bei jedem Bilderbuch, sondern nur bei den literarisch und bildästhetisch herausfordernden, die inhaltlich und strukturell mit Überraschendem und Ungewöhnlichem aufwarten. Bei den simpel gestrickten Bilderbüchern findet man kaum solche Leerstellen, die zur Deutung auffordern.“

Interkulturelles Lernen mit mehrsprachiger Kinderliteratur

Ein weiterer Schwerpunkt von Gabriela Scherers Forschung ist das interkulturelle Lernen. Dabei untersucht sie, ob und wie sich mithilfe von Bilderbüchern und kinder-literarischen Texten eben jenes Lernen unterstützen lässt. Gemeinsam im Team – mit einer Fachkollegin sowie studentischen Hilfskräften – habe sie beispielsweise Schulkinder mit einem deutsch-türkischen Bilderbuch in Kontakt gebracht: „Das Buch war zweisprachig.“ Und die Geschichte habe ein offenes Ende gehabt. „Die Kinder konnten selbst ein Ende schreiben. Und dieses zugleich auch bildlich gestalten.“ 

 „Dabei haben wir beobachtet“, so berichtet es die Professorin weiter, „dass die türkischstämmigen Kinder der Klasse sehr stolz waren.“ Stolz, da sie bei dieser Aufgabe mehr wussten und konnten als ihre deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler – und auch mehr als die Lehrerin. „Die türkischstämmigen Kinder haben beide Sprachen in dem Buch verstanden. Sie konnten den anderen erklären, was die türkischen Wörter bedeuten. Letztendlich haben also alle davon profitiert.“ Genau solche Ansätze seien es, ergänzt Gabriela Scherer, die nebenher nicht nur die Freude am Lesen und an Literatur, sondern auch das soziale Miteinander fördern.

Mithilfe von Bilderbüchern und Kinderliteratur mit Bezug zu anderen Kulturkreisen ließe sich einiges erreichen, erklärt die Fachfrau weiter: „Schülerinnen und Schüler werden an eine wertschätzende Begegnung mit kultureller Vielfalt herangeführt.“ Um Lehrkräfte für das Thema zu sensibilisieren, um neue Anreize für den Unterricht anzubieten, habe sie in Ko-Autorinnenschaft mit einer Fachkollegin eine Praxishandreichung veröffentlicht: „Interkulturelles Lernen mit Kinderliteratur“ lautet der Titel. Erschienen ist die Publikation im Verlag Klett Kallmeyer.

Gabriela Scherer nennt ein weiteres Beispiel, wie sie das Potenzial von interkulturellem Lernen untersucht: „Wir haben einer Förderschulklasse ein Bilderbuch vorgestellt, das neben deutschen Texten auch chinesische Schriftzeichen enthält.“ In Aufgabenstellungen dazu ging es beispielsweise darum, Sätze zu erarbeiten, mit denen sich die chinesischen Schriftzeichen erklären lassen: „Literatur kann für Kinder ein Türöffner zu einer für sie neuen, ganz anderen, Welt sein.“ Gabriela Scherer berichtet zugleich, dass die Kinder „sehr ehrfürchtig“ mit dem für sie ganz besonderen Buch umgegangen seien. „Sie haben gemerkt, sie haben etwas Tolles in der Hand. Sie haben das Buch mit Wert behandelt.“ Einen Wert, den sie vielleicht aus dem Alltag nicht kennen. Denn Scherer trifft in ihren Untersuchungen immer wieder auch auf Kinder, die, so würde man es vielleicht etwas technokratisch ausdrücken, aus „bildungsfernen Schichten“ kommen. „Alle Kinder merkten, wenn sie sich mit dem Buch beschäftigen, dass sie ein Stück Kulturgut in den Händen halten.“ Ein Stück Kultur, an dem sie in diesem Moment teilhaben dürfen. 

Als Mit-Organisatorin von internationalen Tagungen zum Bildungspotenzial zeitgenössischer Bilderbücher versucht Gabriela Scherer für das Thema zu werben: „Unsere Tagungen sind unter anderem offen für Lehrkräfte, denen man so vielleicht neue Impulse mitgeben kann.“ Und welche Impulse nimmt sie aus den Veranstaltungen mit? Einmal seien zwei schottische Kolleginnen als Rednerinnen zu Gast gewesen, berichtet Scherer, deren Blickwinkel sei für sie als Bilderbuchforscherin im deutschsprachigen Raum besonders interessant gewesen: „Es zeigte sich, dass in Großbritannien interkulturelles Lernen viel selbstverständlicher ist als bei uns.“ Und sie habe den Eindruck gewinnen können, dass die dortigen Bilderbuchforscherinnen und -forscher mit ihren Projekten „noch enger an den Schulen dran sind, mit ihnen kooperieren“. Ansätze, die sie im Blick behalten möchte.

Bilderbuchforschung: Neues Netzwerk gegründet 

Fragt man darauf hin nach Zukunftsplänen, so erzählt Gabriela Scherer, sie habe ein neues Netzwerk zur Bilderbuchforschung mitinitiiert – gemeinsam mit Professorinnen und Professoren von anderen Universitäten. „Es geht um eine bessere Vernetzung, um mehr Austausch.“ Online sei glücklicherweise mittlerweile viel möglich. „Wir wollen auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erreichen. Auch zeigen, was international im Bereich der Bilderbuchforschung geschieht. Sozusagen den Blick über den Tellerrand ermöglichen.“ Diese Sichtweise sei in Zukunft relevant, resümiert Scherer, „auch für diejenigen, die eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen, vielleicht selbst Professorin oder Professor werden möchten. Sie werden um die internationale Sicht nicht herum kommen.“

Ganz neue Einblicke

Und dann berichtet sie von einem neuen Forschungsprojekt, das derzeit allerdings noch ausgearbeitet werde. Nur so viel: Es gehe um eine spezielle Art von Illustrationen. Genauer gesagt um Märchenbilderbücher mit Scherenschnitten. Eine neue, ungewöhnliche Herangehensweise sei das, berichtet Scherer: „Durch die Scherenschnitte kann man stellenweise auf die nächste Seite des Buches schauen“. Mit ihrem Team möchte sie der Frage nachgehen, wenn solche Bücher – sozusagen „Bücher mit Durchblick“ – beispielsweise im Unterricht eingesetzt werden, was das mit dem Verständnis des Märchentextes macht. Ähnlich wie bei den Seitenumbrüchen stelle sich auch hier die Frage, wie die Geschichten darauf hin von Schülerinnen und Schülern interpretiert werden. „Man bekommt durch die Scherenschnitte einen ganz anderen Blick auf die Sache. Eine weitere Sinnebene erschließt sich.“ 

In der Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises

Gabriela Scherer weiß genau, wovon sie spricht. Nicht nur als Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich intensiv mit Literatur – in Text und Bild –, sondern sie ist aktuell auch Jurymitglied des Deutschen Jugendliteraturpreises für die Preisjahre 2023-2024. „Gemeinsam sichten und beurteilen wir Neuerscheinungen auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt“, beschreibt sie die Tätigkeit dieses Gremiums. Dabei merkt man, wie stolz die Literaturdidaktikerin ist, dass sie von der ehemaligen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Anne Spiegel, für die ehrenamtliche Tätigkeit berufen wurde. Sie war schon einmal in der Kritikerjury tätig, damals wurde sie von der ehemaligen Bundesministerin Franziska Giffey als Vorsitzende der Sonderpreisjury „Illustration“ für das Preisjahr 2019 eingesetzt. „Das zeigt ja auch, dass wir hier in Rheinland-Pfalz gute Arbeit leisten, die eine breitere Anerkennung findet.“ Mit der Jury-Arbeit versuche sie vor allem, Orientierung anzubieten, ordnet es Gabriela Scherer weiter ein: „Wir wollen auch Eltern und Lehrkräften zeigen, welche kinder- und jugendliterarischen Neuveröffentlichungen bemerkenswert sind. Welche Bücher von den Themen her sozusagen up to date sind – sowie vom künstlerischen Aspekt her betrachtet ungewöhnlich und etwas Besonderes sind.“ Es geht also um die Einordnung von Qualität. Vielleicht gibt sie so auch gleich den einen oder anderen Tipp, wenn es um die Auswahl des nächsten Geburtstags-, Oster- oder Weihnachtsgeschenks geht. Und wer weiß, möglicherweise wird das ein oder andere – so entdeckte – Werk eines Tages mit „Harry Potter“ und „Peter dem Hasen“ in einem Atemzug genannt – nämlich dann, wenn es um die weltweit erfolgreichsten Kinderbücher geht.

Prof. Dr. Gabriela Scherer lehrt und forscht im Gebiet Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Campus Landau. Ihre Schwerpunkte sind Literarisches Lernen, Kinder- und Jugendliteratur sowie Gegenwartsliteratur in literaturdidaktischer Perspektive. Zuvor hat sie unter anderem einige Jahre als Gymnasiallehrerin in Deutschland, Japan und der Schweiz gearbeitet. Vor ihrer Berufung auf die Germanistik-Professur in Landau mit dem Schwerpunkt Literaturdidaktik war sie zudem mehrere Jahre als akademische Rätin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in der Lehrerbildung tätig. An der Universität Zürich hat sie Germanistik, Anglistik und Literaturkritik studiert, dort auch in germanistischer Literaturwissenschaft promoviert – sowie das Lehramtsdiplom für Gymnasien für die Fächer Deutsch und Englisch erworben. Foto: Gabriela Scherer

Weitere Informationen und Tipps gibt es in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Gabriela Scherer, in den Unterrichtsvorschlägen und Praxisbeispielen sowie im Themenheft „page breaks“.

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