Kipp-Punkte – warum der Boden Biodiversität braucht

Eine Art Gitterstruktur – ein Wechsel aus bewirtschafteten und ungenutzten Flächen – könnte die Biodiversität im Boden erhalten. Foto: Hermann Jungkunst

Die weltweite Lebensmittelproduktion hängt stark von den Böden ab, in denen Getreide-, Obst und Gemüsesorten angebaut werden. Diese Ackerflächen halten einiges aus – doch irgendwann funktioniert der Boden, vereinfacht gesagt, nicht mehr so, wie er eigentlich sollte. Ein sogenannter Kipp-Punkt sei dann erreicht, erklärt Prof. Dr. Hermann Jungkunst, der am iES (Institute for Environmental Sciences) forscht. Wann es dazu kommen kann – und welche Folgen damit verbunden sind – untersucht der Geoökologe gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Rahmen eines interdisziplinären Projekts.

Der Boden sei der Teil des Ökosystems, der vieles abpuffert, erklärt Hermann Jungkunst: „Pflanzen müssen sich selbst kaum an natürlich variable Umweltbedingungen wie den Niederschlag oder durch den Menschen verursachte Veränderungen anpassen. Der Boden regelt das für sie.“ Dieser speichere Niederschläge, also Wasser. Und der Boden sei es, der dieses Wasser wieder bereitstellt: „Die Pflanzen müssen es sich dann nur noch abholen.“ Das Gleiche gelte für Nährstoffe. Und der Boden sorge dafür, dass Schwermetalle nicht in die Wurzeln der Pflanzen gelangen.

Gemeinsam mit Arbeitsgruppen der Universitäten in Hamburg, Bonn, Kassel, Berlin und Hannover haben Hermann Jungkunst und sein Team untersucht, was passiert, wenn der Boden diese „Dienstleistungen“ nicht mehr erbringen kann. Wann also ein Kipp-Punkt erreicht wird: „Ob man das Erreichen erkennen kann, bevor es zu spät ist.“ PRODIGY* heißt das dazugehörige Forschungsprojekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird – und dessen Federführung in Landau liegt. Ein Kipp-Punkt sei eine plötzliche Veränderung, wie Jungkunst ergänzt, für den Boden könne das heißen: „Eine Zeit lang geht es gut. Der landwirtschaftlich genutzte Boden kann die Trockenheit lange kompensieren.“ Doch plötzlich und kaum reversibel, also umkehrbar, gehe das nicht mehr.

Forschungsschwerpunkt war das Dreiländereck im Amazonasgebiet – Bolivien, Brasilien und Peru, eine besonders artenreiche Gegend und zugleich eine Region, die von Trockenheit bedroht ist. Gemeinsam mit seinem Team in Landau sei er im Rahmen des interdisziplinären Projektes vor allem chemisch-physikalischen Fragestellungen nachgegangen, wie Jungkunst berichtet. Genauer gesagt: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich angeschaut, ob ein Boden andere Treibhausgase abgibt, je nachdem, ob er sich in einem intakten Regenwaldgebiet befindet – oder ob er länger schon landwirtschaftlich genutzt wird. „Also, ob ein Kipp-Punkt durch die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens erreicht wurde.“ Hermann Jungkunst: „Ergänzt wurden diese Messungen durch das Team in Hannover, das die Biodiversität in den Böden erforschte.“

Veränderungen im Ökosystem Boden können Auswirkungen auf wirtschaftliche und soziale Systeme haben

Die weiteren Partner von PRODIGY haben sich anderen Teilaspekten gewidmet, wie Jungkunst weiter ausführt. Auch hierbei ging es um die Frage, welche Auswirkungen es hat, wenn es zu einem Kipp-Punkt kommt. Jungkunst: „Hintergrund ist, dass Veränderungen im Ökosystem Boden Auswirkungen auf andere – damit verbunden Systeme – haben kann.“ Gemeint seien wirtschaftliche und soziale Systeme. Eine Frage in dem Projekt sei deshalb auch: „Steigen die Kriminalität und die Illegalität, wenn Bauern nicht mehr von ihren Feldern leben können?“ Denn eine ausreichende Nahrungsmittelproduktion könne nur gewährleistet werden, „wenn entsprechend genutzte Böden ihre Funktionen in vollem Umfang erbringen können“.

Doch zurück zu Jungkunst, seinem Team und den Forschungsarbeiten im Amazonasgebiet: An insgesamt vier Stellen unterschiedlicher Nutzung – insgesamt jeweils an 12 unterschiedlichen Farmen  – haben die Forschenden große Löcher gegraben, die etwa einen Meter tief und zwei bis drei Meter breit waren. Es wurden Bodenproben entnommen. Zusätzlich und relativ unkompliziert haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort, auf ungestörten Bodenoberflächen, abgehende Gase in luftdichte Gefäße anreichern lassen – und in kleine Flaschen gefüllt. Im Labor in Landau wurden diese Gasproben dann analysiert. Hermann Jungkunst: „Die Gase im unberührten Wald waren wie erwartet. Bei den Gasen der jungen und waldnahen landwirtschaftlich genutzten Flächen – aber auch nach etwa 10-jähriger Nutzung – haben wir gesehen, dass die Stoff-Flüsse gestört sind.“ In den Untersuchungen ging es um die drei Haupttreibhausgase, die von den Forschenden als Indikator für ein intaktes Ökosystem genutzt wurden: CO2, N2O (Lachgas) und Methan.

Bestätigt haben die Forschenden beispielsweise, dass der Wald ein besserer Kohlenstoffspeicher ist als Ackerland. Und bei den Ackerflächen ist die Methan-Aufnahme geringer. „Normalerweise entfernen Böden Methan aus der Atmosphäre und binden das Treibhausgas im Boden.“ Bei den untersuchten älteren Ackerböden war diese Fähigkeit schon herabgesetzt. Und die Lachgas-Messungen lassen den Schluss zu, dass der Stickstoff-Kreislauf in den bewirtschafteten Flächen gestört ist. Jungkunst zieht als Schlussfolgerung: „Die von uns untersuchten landwirtschaftlichen Flächen haben den Kipp-Punkt erreicht.“ Oder allgemeiner ausgedrückt: Die bewirtschafteten Flächen funktionieren nicht mehr so, wie sie eigentlich sollten. Sie können die von ihnen erwartenden Dienstleistungen nicht mehr wahrnehmen. Es kann nicht mehr so viel produziert werden. 

Die Vielfalt an Lebewesen im Boden sorgt dafür, dass der Boden seine verschiedenen Dienstleistungen überhaupt erbringen kann 

Um das alles noch genauer zu verstehen, muss man sich zugleich dem Thema Biodiversität widmen – also, vereinfacht gesagt der Vielfalt an Arten. In diesem Fall geht es um die Pilze und Mikroorganismen, die natürlicherweise im Boden leben: „Diese kleinen Lebewesen übernehmen die unterschiedlichsten Aufgaben in dem Ökosystem“, erklärt Jungkunst. Einige stellen den Pflanzen beispielsweise Phosphor bereit. Andere bauen Nitrat ab oder binden Schwermetalle. Wiederum andere lockern den Boden, sodass dieser mehr Wasser speichern kann. Kurz gesagt also: Die Vielfalt an Lebewesen im Boden sorgt dafür, dass der Boden seine verschiedenen Dienstleistungen überhaupt erbringen kann.

Und, so erklärt es Hermann Jungkunst, die von ihm und seinem Team durchgeführten Gasmessungen weisen darauf hin, dass die Zusammensetzung dieser Mikroorganismen in den bewirtschafteten Flächen verändert ist: „Einige der Kleinstlebewesen fehlen bereits.“ Denn wären, vereinfacht ausgedrückt, alle noch da, dann wären auch alle – via Gasmessung analysierten Stoffkreisläufe – noch intakt. Die PRODIGY-Untersuchungen haben dahingehend zusammenfassend gezeigt: Viele Organismen mit leicht unterschiedlichen funktionalen Eigenschaften können dazu beitragen, dass ein Kipp-Punkt ausbleibt. 

Verbesserung der Biodiversität: Eine Gitterstruktur der landwirtschaftlichen Nutzung

Was wäre die Konsequenz aus den Untersuchungen? Eine landwirtschaftliche Nutzung des Bodens ist nötig – keine Frage. Dem stimmt auch Hermann Jungkunst zu, und er ergänzt: „Der unberührte Regenwald und die landwirtschaftlich genutzten Flächen könnten in einem bestimmten Verhältnis zueinander aufgebaut sein.“ Man könne den Wald stückchenweise öffnen. In einer bestimmten Gitterstruktur etwa. „Das wäre für die Biodiversität der landwirtschaftlich genutzten Flächen vorteilhafter.“

Auch hinsichtlich der Aufnahme von Regen scheint eine Art Gitterstruktur einen Mehrwert zu haben. Jungkunst holt etwas weiter aus: „In Westamazonien kann nur der Wald selbst für Regen sorgen.“ Die Region sei nun mal zu weit weg vom Meer. Wesentlich seien auch die Anden im Weg. Verdunstungsprozesse spielen eine Rolle. Ein Kreislauf sei das. „Öffnet man den Wald zu weit, also wird zu viel für Ackerfläche abgeholzt, dann besteht die Gefahr, dass es zu wenig regnet.“ Trockenheit droht. „Auch hier scheint es vorteilhafter zu sein, wenn die landwirtschaftliche Nutzung nur in einer bestimmten Gitterstruktur stattfindet.“ 

Die Frage sei laut Jungkunst: Kann man mehr Wald nutzen, wenn man nicht riesige Flächen rodet – sondern mehr kleinere. Wie genau eine solche Gitterstruktur aussehen könnte, muss Gegenstand von zukünftigen Forschungsvorhaben sein. Auch das Beispiel Bolivien weise darauf hin, dass eine Art Gitter vorteilhafter sei, wie Hermann Jungkunst noch anfügt: Hier gebe es mehr Kleinbauern. Anders als beispielsweise in Brasilien entspreche die landwirtschaftliche Nutzung natürlicherweise dieser Gitterstruktur. „Die Biodiversität ist hier noch ausgeprägter.“ PRODIGY hätte in den nächsten Jahren zur weiteren Klärung beitragen können. Doch das BMBF-Projekt läuft im Februar 2023 aus. Hermann Jungkunst bedauert das – und ist zugleich zuversichtlich, dass er sich im Rahmen von weiteren Projekten dieser Frage erneut wird stellen können. Denn eines ist klar: Verändert sich der Boden, dann bleibt nichts mehr, wie es war. Auch erste Untersuchungen hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Folgen bestätigen dies. Hermann Jungkunst: „Es zeigt sich, dass die Institutionen eines Staates die Folgen irgendwann nicht mehr aufhalten können.“ Mehr Biodiversität könne also aus gleich mehreren Gründen von Vorteil sein. Also nicht das Opfer sondern die Lösung sein, wie Hermann Jungkunst sagt.

* PRODIGY bedeutet „Production Diversity generates Yield“. Hermann Jungkunst: „Prodigy ist eine tolle Band der 1990er-Jahre, deren Sänger leider vor Kurzem starb. Es bedeutet Wunderkind. Was auf die funktionelle Biodiversität bezogen ist.“

Hermann Jungkunst studierte Geographie in Tübingen und promovierte an der Universität Hohenheim. Es folgte eine wissenschaftliche Laufbahn am Max Planck Institut in Jena und an der Universität Göttingen. Seit 2012 ist er Professor für Geoökologie und Physikalische Geographie am Campus Landau. Foto: privat

Wissenschaftliche Veröffentlichungen siehe hier.

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