Wie der demografische Wandel den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung verändert

"Die Rente ist sicher" hat 1997 der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm versichert. Mit dem sinkenden Verhältnis Beitragszahler zu Rentner muss für die soziale Sicherung neu gedacht werden. Foto: Colourbox

Welchen Einfluss hat der demografische Wandel auf die Politik des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherung? Dieser Frage geht die Abteilung Wirtschaftswissenschaft um Ökonomie-Professor Werner Sesselmeier in mehreren Projekten nach. Sie entwickeln Zukunftsszenarien und leiten daraus Handlungsempfehlungen ab. Dabei schauen sie auch immer auf Systeme im Ausland.

„Die Vorstellung, dass man am Anfang seines Lebens lernt, 40 Jahre arbeitet und dann in Rente geht, ist passé“, sagt Ökonomie-Professor Werner Sesselmeier. Menschen müssen heute länger arbeiten und ihr Leben lang lernen. Die Lebenserwartung der Menschen nimmt zu. Kinder, die heute geboren werden, werden im Schnitt über 80 Jahre alt, wobei Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer. „Aufgrund der heute höheren Lebenserwartung müssen diese Menschen länger in der Rente finanziert werden. Gleichzeitig sinkt das Verhältnis Beitragszahler zu Rentner beständig. Demnächst haben wir nur noch zwei Beitragszahler auf einen Rentner.“ Zum Vergleich: Vor 60 Jahren war das Verhältnis noch sechs zu eins. Eine Folge des demografischen Wandels am Arbeitsmarkt ist bereits jetzt: Verlängerung der Lebensarbeitszeit und ein späterer Renteneintritt. Aber auch mehr Frauenerwerbstätigkeit, technischer Fortschritt und Zuwanderung werden zur Kompensation der demografischen Entwicklung notwendig sein. Am Institut für Sozialwissenschaften erforscht Sesselmeier mit seinem Team, externen Doktoranden und Projektpartnern in mehreren Projekten, wie sich der Arbeitsmarkt verändert und anpassen muss, um für eine soziale Sicherheit sorgen zu können.

Raus aus bekannten Schubladen

Ein wichtiger Ansatz zur Stabilisierung von Alterssicherungssystemen, also ein funktionierendes System zu schaffen, ist, anreizorientiert zu denken. Sprich: Wie müssen Alterssicherungssysteme gestaltet und vermittelt werden, damit die Leute länger in ihrer Arbeit bleiben, dass sie neben der gesetzlichen Rente eine Zusatzrente abschließen? „In der Arbeitsmarktpolitik und der sozialen Sicherung haben wir das Problem, dass wir alle glücklich sind dank bekannter Schubladen. Die geben uns Sicherheit. Wenn sich nun aber wie aktuell die Umwelt ändert, müssen wir auch die Rahmenbedingungen für die soziale Sicherheit, also die Schubladen, ändern.“ Das verunsichere die Menschen, weil auf einmal etwas Neues da sei, an das sie sich gewöhnen müssen. Deshalb müsse überlegt werden, wie ein neues System gestaltet werden kann, das die Menschen akzeptieren. Das geht weit über technokratische Maßnahmen hinaus und braucht einen umfassenderen sozialwissenschaftlichen Ansatz.

Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, schauen Sesselmeier und sein Team auch ins Ausland. Sie verglichen in mehreren Veröffentlichungen das deutsche Rentensystem mit dem mehrsäuligen System in Schweden. Neben dem für Ökonomen typischen Einsatz von Theorien und Daten wurden etwa Interviews mit Verantwortlichen der schwedischen Rentenversicherung geführt, um herauszufinden, wie sich die Systeme unterscheiden und was sie als Handlungsempfehlungen für das deutsche System ableiten können.

Wer zahlt entstehende Kosten durch längere Lebenszeit?

Wie könnten die neuen Gegebenheiten durch längere Arbeitszeiten und späteren Renteneintritt finanziert werden? „Der Beitrag der gesetzlichen Rentenversicherung ist in der Regel 20 Prozent des Bruttolohns, den sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer formal teilen. Der Arbeitnehmer muss diese 20 Prozent aber natürlich erwirtschaften, neben den Kosten für Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Unfallversicherung“, sagt Sesselmeier.

Das deutsche Rentensystem, das auf einem Generationenvertrag basiert, gerät also unter Druck: Wie können dennoch die durch Langlebigkeit entstehenden Kosten zwischen denen, die das Geld erwirtschaften, und denen, die das Geld als Rentner haben wollen, aufgeteilt werden? Dazu gibt es, so Werner Sesselmeier, mehrere Möglichkeiten. Zum einen: Beitragssätze erhöhen. Dadurch würden zwar die späteren Ansprüche auf Rente erhöht werden, gleichzeitig aber auch die Arbeitskosten steigen. Eine weitere Möglichkeit sei es, dass Leute länger arbeiten, so Sesselmeier. Des Weiteren müsse überlegt werden, ob die Rente in einem gewissen Umfang steigt oder nicht. „Bei uns führt eine Lohnerhöhung im einen Jahr zu einer entsprechenden Rentenerhöhung im nächsten“, erklärt Sesselmeier. In der aktuellen Rentenformel der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es bereits einen sogenannten demografischen Faktor, mit dem versucht wird, die unterschiedlichen Interessen in Einklang zu bringen.

Bei wem macht eine Weiterbildung Sinn?

Klar ist aber auch: All diese Maßnahmen haben Vor- und Nachteile und können nicht problemlos flächendeckend umgesetzt werden. Es müsse zum Beispiel überlegt werden, für wen diese Schritte sinnvoll seien. Sesselmeier selbst habe zum Beispiel kein Problem damit, länger zu arbeiten. Ein Dachdecker wiederum könne mit 65 Jahren nicht mehr aufs Dach steigen. „Wenn sich also die Lebensarbeitszeit verlängern muss, dann muss ich diese Personen weiterbilden, ihnen andere Jobs geben oder schauen, ob sie nicht doch eher in Rente gehen können.“ Mit dieser Fragestellung befasste sich Sesselmeier in einem längeren Projekt mit internationalen Projektpartnern vor etwa zwei Jahren. Welche neuen Risiken tauchen auf, wenn sich die Lebensarbeitszeit verlängert? Habe ich dann immer noch ein vollständiges Einkommen oder nur Teilzeitjobs? Wie gesund bin ich in der Zeit? Stellt mich überhaupt noch jemand ein?

In den Untersuchungen fanden er und sein Team heraus, dass es Leute härter treffen würde, die ohnehin schon weniger verdienen, da die Erwerbsverläufe von Geringverdienern weniger stetig sind und zudem mit erschwerten Arbeitsbedingungen einhergehen, und, dass auch Frauen mehr darunter leiden würden. „Frauen setzen oft ein Drittel ihres Erwerbslebens aus, um sich um die Kinder zu kümmern. Durch die geringere Arbeitszeit haben sie oft auch eine schwindende Qualifikation, was zum Beispiel eine Umschulung im späteren Berufsleben erschwert“, sagt Sesselmeier. Setzt man im höheren Alter auf  Weiterbildung, dann müsse diese on the Job passieren und nicht wie im jungen Alter über Prüfungen, da dies mit zunehmendem Alter schwieriger umzusetzen sei. Auch müsse überlegt werden, welche Personen weiterbildungsfähig sind. „Ich muss aber auch schauen, welche Anreize ich der Person setzen muss, dass sie sich weiterbildet.“

Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt

Ein wichtiger Treiber des Arbeitsmarktwandels ist auch die Digitalisierung. Viele Arbeitskräfte hätten Angst, dass der technische Fortschritt Arbeitsplätze vernichtet und so die soziale Sicherung gefährdet. Das stimmt aber nicht, sagt Sesselmeier. „Es gehen Arbeitsplätze verloren und parallel entstehen neue. Die Prognosen sagen, dass keine ganzen Berufe verschwinden, sondern sich verschiedene Tätigkeiten je Beruf ändern.“ Als Beispiel führt er Lageristen an. Die Entwicklung in der Digitalisierung brachte zum Beispiel elektronische Skelette hervor. Diese unterstützen die Muskelkraft von Arbeitenden. Der Körper wird weniger belastet und die Lageristen könnten länger in der Erwerbstätigkeit bleiben. Sesselmeier hat in seinen Studien gesehen, dass in vielen Berufen eine Kombination aus analoger und digitaler Arbeit zunehmen wird. Die Leute müssen entsprechend weitergebildet werden.

Viele Veränderungen laufen normal im Arbeitsprozess ab und müssen nicht zwingend durch eine Weiterbildung erlernt werden. Ist aber eine Weiterbildung notwendig, stellt sich ganz oft die Frage, wer diese finanziert. „Will sich ein Arbeitnehmer aus eigener Initiative heraus weiterbilden, kann die Weiterbildung nicht berufsbegleitend machen und wird sie dann nicht vom Arbeitgeber finanziert, muss sich der Arbeitnehmer frei nehmen. Ihn kostet sie entgangener Lohn. Der Arbeitgeber braucht einen Ersatz für die Zeit, wenn der Arbeitnehmer nicht da ist. Und dann kommen noch die Kosten für die Weiterbildung selbst. Für die Weiterbildung braucht es Spezialisten“, sagt Sesselmeier. Die Kostenübernahme sei abhängig von der Qualifikation, die erworben werden soll. Je allgemeiner diese sei, desto mehr Kosten müsse meist der Arbeitnehmer selbst übernehmen, je unternehmensspezifischer, umso mehr Kosten würde der Arbeitgeber tragen. Der aktuell herrschende Arbeitskräftemangel stärke dabei die Position des Arbeitnehmers. Über eine stärkere Institutionalisierung von Weiterbildung wird seit Jahren unter dem Stichwort Arbeitsversicherung diskutiert. In einem gemeinsamen Projekt mit einem Forschungsinstitut konnten zu dieser Diskussion wichtige Erkenntnisse hinsichtlich individueller und gesamtwirtschaftlicher Kosten und Nutzen beigesteuert werden.

Veröffentlichungen über unterschiedliche Kanäle

Sesselmeier und sein Team leiten die Ergebnisse ihrer Forschungen über verschiedene Kanäle an die Öffentlichkeit und Entscheidungsträger weiter. Zu einem internationalen Projekt der Landauer Universität mit Institutionen und Kolleginnen und Kollegen aus Brüssel, Wien und London gab es eine eigene Homepage und Newsletter, einige Personen aus dem Forschungsverbund hatten Kontakte zu EU-Parlamentariern, an die sie herantreten konnten, Sesselmeier ist Herausgeber der Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“, deren dahinterstehende Gesellschaft sich unter anderem aus Bundesministerien und Verbänden zusammensetzt. „Wir wollen bei Entscheidern und Anwendern einwirken, die Ergebnisse in Fachzeitschriften unterbringen, auf Tagungen vorstellen und Forschungsberichte erstellen“, sagt Sesselmeier.

Künftig will der Ökonom in seinen Projekten noch stärker den Auslandsvergleich anstellen und sich die Frage stellen: Hängt das Verhalten der Individuen vom jeweiligen Rentensystem, also der Gewohnheit ab? Sprich: Verhalten sich Personen, die ein anderes Rentensystem gewohnt sind anders, wenn es um Dinge wie die soziale Sicherheit geht? Dort will er zum Beispiel schauen, wie die Unterschiede in Deutschland und Großbritannien sind, die unterschiedliche Modelle der Altersvorsorge vorweisen. Eine Vorstudie dazu wurde gerade in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“ veröffentlicht. Treten gewisse Schocks wie Corona auf, sind Deutsche zum Beispiel Fans von Kurzarbeit, die in anderen Ländern gar nicht so verbreitet ist. Ein weiteres kleineres, über das Forschungsnetzwerk Alterssicherung unterstütztes Projekt soll hingegen schauen, was Deutschland von einem ähnlichen Rentensystem lernen kann. Hier soll das deutsche System mit dem österreichischen Rentensystem verglichen werden.

Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern

In einem weiteren Projekt, das gerade eingereicht wurde, wollen Sesselmeier und seine Mitarbeiter untersuchen, wie sich Lohnmodelle in Niedriglohnbereichen zwischen verschiedenen Ländern unterscheiden. „Wie wirkt sich zum Beispiel der Mindestlohn, den andere schon seit Jahrzehnten haben, auf Arbeitsplatzstruktur, Entlohnung und Akzeptanz aus?“ Ein konzeptioneller Aufsatz dazu erschien vor kurzem im Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft. Darüber hinaus konzipiert der Arbeitsbereich Wirtschaftswissenschaften gerade ein größeres Projekt, das typische ökonomische Vorgehensweisen überwinden will. „Normalerweise schaue ich mir eine Ursache für ein ökonomisches Phänomen an und lasse alle anderen Ursachen konstant. Meistens sind aber alle Ursachen miteinander verwoben.“ Hier gilt es auch auf Entwicklungen am Arbeitsmarkt durch verschiedene Schocks der vergangenen Jahre, wie Corona, der Ukrainekrieg, Zuwanderung und die Wiedervereinigung zu schauen und in Bezug zueinander zu setzen.Auf den Arbeitsmarkt kommen also einige Veränderungen zu, die notwendig sind, um für die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Längere Lebensarbeitszeiten, die Erhöhung der Rentenbeitragssätze und Weiterbildungen im Alter gehören künftig zur Normalität. Daneben muss ein modifiziertes Rentensystem geschaffen werden, mit dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber leben können.

Prof. Dr. Werner Sesselmeier studierte von 1982 bis 1988 Volkswirtschaftslehre an der Universität Regensburg. Nach seinem Wechsel zur Technischen Hochschule, jetzt Technische Universität Darmstadt, an der er promovierte und habilitierte, wurde er 2002 zum außerplanmäßigen Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik ernannt. Zudem war er freier Mitarbeiter der Enquete-Kommission demographischer Wandel des Deutschen Bundestags und ist seit 2003 Herausgeber der Zeitschrift „Sozialer Fortschritt.“ An der Universität Landau ist Sesselmeier Professor in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft. Foto:

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