Einmal Narzisst – immer Narzisst?

Menschen, bei denen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft stark ausgeprägt ist, haben die Vorstellung, „etwas ganz Besonderes“ zu sein. Foto: Colourbox

Schaut man sich so manches Social-Media-Profil an, so könnte man meinen, wir leben in einer Welt von Selbstverliebten: Täglich werden Selfies gepostet, die den vermeintlichen Hauptakteur oder die Hauptakteurin beim Essen, beim Kochen, beim Einkaufen oder einfach nur beim schnöden Spazierengehen zeigen. Es scheint, als haben Soziale Medien die Möglichkeiten der Selbstinszenierung befeuert – und die Frage drängt sich auf: Ist die Zahl an Narzissten gestiegen? „Das können Studien nicht eindeutig belegen“, sagt Prof. Dr. Eunike Wetzel, die als Psychologin zu dem Thema forscht. „Eine von uns durchgeführte Studie hat zwar gezeigt, dass dem nicht so ist. Andere Studien jedoch kommen zu einem anderen Schluss.“ Dennoch ist das Thema für sie als Wissenschaftlerin zentral: Eunike Wetzel untersucht, ob sich Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft im Lauf eines Menschenlebens verändert.  

Was die Psychologin in jedem Fall sagen kann: Insgesamt nehmen narzisstische Neigungen im Alter ab. „Mag sein, dass ältere Menschen Jüngere für narzisstischer halten. Aber sie sind es früher auch gewesen.“ Eunike Wetzel unterscheidet zwischen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft und der gleichnamigen Persönlichkeitsstörung, die klinisch relevant ist. Was sind die Unterschiede? „Die klinisch relevante Form ist viel stärker ausgeprägt. Sie geht mit stärkeren Problemen in der Beziehung oder bei der Arbeit einher. Und erfordert auch eher eine Therapie.“ All das sei weniger stark zu finden, betrachtet man Narzissmus auf der Ebene einer Persönlichkeitseigenschaft: „Die Eigenschaft ist letztendlich bei jedem von uns vorhanden. Allerdings in unterschiedlich starkem Ausmaß.“ Genauso wie beispielsweise Extraversion oder Gewissenhaftigkeit. Auch diese Merkmale seien nun mal nicht bei jedem Menschen in gleichem Maße verortbar.

Und wie macht sich Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft bemerkbar? Eunike Wetzel: „Wir sprechen davon, dass Personen mit hoher Ausprägung im Narzissmus ein grandioses Selbstkonzept besitzen.“ Der Gedanke, etwas Besonderes und anderen überlegen zu sein. Auch eine übertriebene Selbstliebe und ein Mangel an Empathie gelten als kennzeichnend.

Als Persönlichkeitseigenschaft ist Narzissmus bei jedem mehr oder weniger stark ausgeprägt

Im Rahmen ihrer aktuellen Forschung schaue sie sich „die Entwicklung der Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus im Laufe des Lebens an“, wie Eunike Wetzel es weiter differenziert. Die Frage dabei sei: „Wie entwickelt sich die Narzissmusausprägung über die Lebensspanne?“ Und welche Vorteile oder Nachteile haben Narzissten in unterschiedlichen Lebensbereichen – „wie Familie, Beruf oder Gesundheit?“ Als Teil eines Forscherteams befragte sie junge Erwachsene zunächst im Alter von 18 Jahren und später dann nochmals nach 23 Jahren, als diese 41 Jahre alt waren. „An der ersten Befragung nahmen etwa 500 Probanden teil. Bei der zweiten waren es dann noch 250.“ Dabei mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Aussagen wie etwa „Ich bin mehr wert als andere“ eher zustimmen – oder eben eher nicht zustimmen. „Das haben wir dann statistisch ausgewertet.“

Es zeigte sich: Beruflich haben sich die Probanden unterschiedlich entwickelt. Dabei gab es einen Zusammenhang, je nachdem, ob sie mit 18 Jahren eher mehr oder weniger narzisstisch veranlagt waren. Eunike Wetzel: „Tatsächlich ist es so, dass die, die mit 18 Jahren eine höhere Ausprägung beim Narzissmus zeigten, sich später mit höherer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen wiederfinden.“ Andersherum seien weniger narzisstisch veranlagte Menschen später seltener in Führungspositionen.

Und auch hinsichtlich der Gründung einer eigenen Familie scheint die Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus mit dem weiteren Lebensweg zusammenzuhängen. Eunike Wetzel: „Die, die mit 18 Jahren eine starke Tendenz beim Narzissmus zeigten, hatten mit 41 Jahren eine höhere Wahrscheinlichkeit, bereits geschieden zu sein.“

Tangiert wurde auch der Lebensbereich Gesundheit: So waren Menschen, die mit 18 eine höhere narzisstische Ausprägung aufwiesen, mit 41 Jahren gesünder als diejenigen, die mit 18 weniger narzisstisch waren. Eine mögliche Erklärung: Menschen, bei denen die Persönlichkeitseigenschaft stärker ausgeprägt ist, sind vermehrt auf sich selbst fokussiert, achten auf ihr Äußeres: Sie treiben mutmaßlich Sport und ernähren sich gesünder.

Eigene Kinder sorgen für Abfall des Narzissmus

„Ganz allgemein können wir aber auch sagen“, fasst Eunike Wetzel ihre Studienergebnisse weiter zusammen, „dass im Alter von 41 Jahren die Probanden insgesamt weniger narzisstisch waren als bei der Befragung 23 Jahre zuvor.“ Die Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaft habe im Durchschnitt also abgenommen. Dennoch traf diese Erkenntnis nicht auf jeden der Befragten zu: „Einige waren mit 41 Jahren weniger narzisstisch als noch mit 18 Jahren. Andere wiederum waren jetzt mehr narzisstisch.“ Wie lässt sich eine solch unterschiedliche Entwicklung erklären? Die Lebensumstände und die damit einhergehenden Erfahrungen können ein Grund sein. Eunike Wetzel: „Wir haben beispielsweise festgestellt, dass bei denjenigen, die Kinder haben, ein größerer Abfall an Narzissmus zu beobachten ist.“

„Die Persönlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt. Menschen verändern sich“

Welches Fazit zieht die Professorin aus den Untersuchungen? „Die Persönlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt. Menschen verändern sich. Man bleibt nicht immer wie mit 20.“ Das betreffe übrigens auch andere Merkmale: „Insgesamt wird man mit dem Alter reifer, weniger egoistisch. Und auch emotional stabiler.“ 

Und was müsste darauf aufbauend erforscht werden? Eunike Wetzel: „Eine nächste Frage wäre, wie es im Leben weitergeht, also wie stark Narzissmus im Alter von 60 oder von 80 Jahren ausgeprägt ist.“ Und sie ergänzt: „Die ausgewerteten Daten stammen aus den USA.“ Alle Probanden waren Studierende oder – bei der zweiten Befragung – ehemalige Studierende der US-amerikanischen Berkeley Universität. „Interessant wäre es jetzt natürlich zu wissen, ob sich die Ergebnisse auf Deutschland übertragen lassen. Und ob sie auf alle Bevölkerungsschichten zutreffen.“ Eine entsprechende Studie habe sie bereits begonnen, sagt Wetzel. Dabei greife sie mit ihrem Team auf einen großen Datensatz mit einigen Tausend Leuten zurück: „Alle Altersstufen von 18 bis 80 werden dabei abgedeckt. Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund.“

Weiteres Forschungsfeld: Wie lassen sich Fragebögen anders konstruieren?

Und dann spricht Eunike Wetzel über einen weiteren ihrer Forschungsschwerpunkte: „Wir stellen uns auch die Frage, wie man Fragebögen konstruieren kann, sodass sie weniger leicht verfälschbar sind.“ Es sei nämlich ein generelles Problem, wenn man, wie oben beschrieben, beispielsweise anhand von Befragungen herausfinden möchte, ob und wie ausgeprägt eine Persönlichkeitseigenschaft ist. Eunike Wetzel: „Bisher war es so, dass Probanden in einem Test einschätzen mussten, ob sie beispielsweise einer Aussage wie „Ich bin besser als andere“ eher zustimmen oder ob sie dieser eher nicht zustimmen.“ Eine solche Zu- oder Nicht-Zustimmung kann etwa auf einer Skala von eins bis zehn verortet werden. Aber: „Eine solche Art der Befragung ist leicht durchschaubar. Jemand, der nicht als Narzisst geoutet werden möchte, für den ist es ein Leichtes, verfälschte Angaben zu machen.“ Genau da will die Wissenschaftlerin ansetzen: So könne in einem Fragebogen statt einer jeweils drei Aussagen gleichzeitig dargeboten werden. Zum Beispiel: „Es fällt mir leicht, mich durchzusetzen. Ich bin besser als andere. Ich habe eine blühende Fantasie.“ Eunike Wetzel: „Die Aufgabe des Probanden wäre, diese drei Aussagen in eine Rangreihe zu bringen. Und zwar so, dass der Satz, der ihn oder sie am treffendsten beschreibt, zuerst genannt wird.“ Der Test hätte – vor allem wenn die drei Aussagen ähnlich erwünschte oder unerwünschte Eigenschaften beschreiben – eine gewisse Unverfälschbarkeit, er wäre sicherer. Sicher scheint es auch zu sein – diesen Schluss zumindest lässt der aktuelle Forschungsstand zu – wird vom Probanden die Aussage „Ich bin besser als andere“ zuerst genannt, dass dies nicht ein Leben lang so bleiben muss: einmal Narzisst – längst nicht immer Narzisst.

Prof. Dr. Eunike Wetzel lehrt seit 2020 Diagnostik und Differentielle Psychologie am Campus Landau. Zuvor war sie – von 2019 bis 2020 – Professorin für Methodenlehre II: Evaluation und Diagnostik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sowie – von Februar bis August 2019 – Assistenzprofessorin für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Wien. 2018 war Eunike Wetzel Juniorprofessorin für Psychologische Diagnostik mit Schwerpunkt Testtheorie an der Universität Mannheim. Von 2013 bis 2017 war sie Postdoc an den Universitäten Tübingen und Konstanz sowie Inhaberin eines Forschungsstipendiums des DAAD, mit dem sie an der University of Illinois und an der University of California forschte. Im Jahr 2013 promovierte sie in Psychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Das Diplom in Psychologie erlangte sie 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Foto: Martin Zimmermann

Publikationen zu Narzissmus

Wetzel, E., Grijalva, E., Robins, R. W., & Roberts, B. W. (2020). You’re still so vain: Changes in narcissism from young adulthood to middle age. Journal of Personality and Social Psychology, 119(2), 479-496. doi:10.1037/pspp0000266

Wetzel, E., Brown, A., Hill, P. L., Chung, J. M., Robins, R. W., & Roberts, B. W. (2017). The narcissism epidemic is dead; long live the narcissism epidemic. Psychological Science, 28(12), 1833-1847. doi:10.1177/0956797617724208

Weitere Publikationen von Eunike Wetzel hier

Das Thema in den Medien

ntv.de: Gibt es immer mehr Selbstverliebte? 

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