Praxis-Unterricht trotz Distanz: Wie ein Mathematik-Labor Corona-Wissenslücken schließen will

Im Mathematik-Unterricht in der Schule fehlt oft der Praxisbezug. Das Mathematik-Labor "Mathe ist mehr" will dort ansetzen. Foto: Henrik Ossadnik

Durch die Corona-Pandemie und den Ausfall von Präsenzunterricht sind bei vielen Schülerinnen und Schülern Wissenslücken entstanden. Wie lassen sich diese Wissensrückstände aufholen? Das Mathematik-Labor „Mathe ist mehr“ will Schülern, Studierenden und Lehrkräften das handlungs- und verständnisorientierte Lernen näherbringen und zeigen, dass dieses auch auf die Distanz funktioniert.

Wieso lerne ich das? Was bringt mir das? Wofür brauche ich das im Leben? Schülerinnen und Schüler stellen sich diese Fragen häufig im Unterricht. Besonders im Fach Mathematik. Wenn es zum Beispiel darum geht, Funktionen oder lineare Gleichungen zu lösen, ist vielen Lernenden nicht klar, was sie später damit anfangen können. Dazu fehlt im Unterricht häufig der Praxisbezug. Durch die Corona-Pandemie gerät dieser noch mehr in den Hintergrund. Das Mathematik-Labor „Mathe ist mehr“, eines von der AG Didaktik der Mathematik (Sekundarstufen) betriebenen Lehr-Lern-Labors, will genau dort ansetzen.

Es basiert auf drei Säulen: Schüler sollen beim Lernen von Mathematik gefördert, die Lehrerbildung soll weiterentwickelt und mit der fachdidaktischen Forschung vernetzt werden. „Es geht dabei darum, für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrende verständnisbasiert zu arbeiten und Lernumgebungen forschungsbasiert weiterzuentwickeln“, erklärt Jürgen Roth, Professor für Mathematikdidaktik und Leiter des Labors.

Lernende sollen verstehen, was sie tun

Zum Mathematik-Labor kommen ganze Klassen, die vor Ort selbstständig an Materialien arbeiten zu Themen, die an den Lehrplan anknüpfen. Die Inhalte werden im Unterricht in der Schule vor- und nachbereitet. Neuerdings richtet sich das Angebot im Labor auch an Schülerinnen und Schüler, die zum Beispiel aufgrund der Corona-Pandemie spezifische Verständnisprobleme haben, weil etwa der Distanzunterricht für sie nicht funktioniert. Sie können diese Probleme in Gruppen im Mathe-Labor angehen.

Wichtig ist bei jedem Angebot des Labors immer die Forschung. Einen Forschungsbereich betreut Dr. Susanne Digel. Gefördert von der Stiftung der Deutschen Telekom forscht die wissenschaftliche Mitarbeiterin seit drei Jahren daran, wie der Mathematikunterricht digital angereichert werden kann. Aufbauend darauf will sie in ihrer aktuellen Forschung am Mathematik-Labor erreichen, dass Schülerinnen und Schüler verstehen, was sie tun und was sie mit den Lerninhalten anfangen können.

Dynamische Vorstellungen schaffen und Änderungen erkennen

Ihr Projekt befasst sich mit mathematischen Funktionen. „Im Unterricht wird meistens viel Fokus auf das Rechnen gelegt. Aber Zusammenhänge durch Funktionen zu sehen, fällt vielen Schülerinnen und Schülern nicht leicht“, sagt sie. Dabei seien Funktionen mit ihren Variablen und deren Zusammenhänge besonders gut geeignet, um dynamische Vorstellungen zu schaffen.  

Eine Übung im Mathematik-Labor ist zum Beispiel das Befüllen eines Wasserglases. Gießen die Schüler wiederholt eine bestimmte Wassermenge ins Glas, können sie erkennen, wie hoch der Wasserstand ist, das Experiment als Funktion darstellen und angeben, wie die Änderung des Wasserstands von der Form des Glases abhängt. Um diese Änderung greifbar zu machen, wird das reale Experiment mit der digitalen Ebene verknüpft. In diesem Fall wird eine App verwendet, die den Wasserstand als Graph darstellt. „Wir schauen, wie man einzelne Aspekte mit Simulationen abbilden und diese mit dem Handeln am realen Experiment zusammenbringen kann, damit es für Schüler greifbar ist“, sagt Digel. „Wir forschen an diesen Fragestellungen seit zwölf Jahren in drei unterschiedlichen Projekten – gefördert von der Telekom-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Denn es eröffnen sich im Mathematik-Labor immer wieder neue Forschungsfragen und -felder.

Corona-Pandemie eröffnet neue Forschungsebene

Digels aktuelles Projekt startete 2019 und lief mitten in die Corona-Pandemie hinein. Damit hat sich für sie eine neue Perspektive geöffnet. Sie stellte sich der Frage: Wie kann man Mathematik im Distanzunterricht greifbarer machen? „Wir haben über Videokonferenzen Projekttage durchgeführt und den Schülern Experimentierboxen in die Schule oder nach Hause gebracht.“ Dadurch konnte das Mathematik-Labor exemplarisch handlungs- und verständnisorientierten Mathematikunterricht in Distanz nachweislich erfolgreich umsetzen.

Die Frage, ob Kinder nun besser mit Materialien zum (Be-)Greifen oder mit digitalen Materialien arbeiten sollten, ist laut Digel einfach zu beantworten: „Beides ist erfolgreicher als konventioneller Unterricht, in dem wenig experimentiert wird.“ Das haben sie und ihr Forschungsteam durch Prä-Post-Messungen festgestellt, also Studien, in denen vor und nach einer Maßnahme Messungen durchgeführt werden. Darin wurde klar: Schülerinnen und Schüler können das Mathematische besser zur Situation in Beziehung setzen. Durch die graphische  Darstellung von Funktionen können sie deren Eigenschaften bestimmen und mathematische Zusammenhänge besser beschreiben. Das führt dazu, dass sie auch im klassischen Mathematikunterricht erfolgreicher sind. Auch über die Auswertung von Arbeitsheften, die das Mathematik-Labor den Schülern zum Arbeiten und Experimentieren mit an die Hand gibt, konnten Digel und ihr Team diese positiven Effekte feststellen.

Theorie und Praxis frühzeitig verzahnen

Es helfe sogar bereits, die Eigenschaften einer Funktion von Anfang an im Unterricht greifbar zu machen. Wenn die Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal das Thema Funktionen im Unterricht behandeln, sei es sinnvoll, Begriffe wie Steigungen gleich mit zu erlernen und anhand eines Graphen zu verdeutlichen. Durch diese dynamische Beschreibung überlegen Lernende bei der nächsten Funktion, die sie sehen, automatisch, wie die Steigung dieser aussehen könnte. Auch diese Gruppen haben in den Forschungsergebnissen besser abgeschnitten als Schulklassen, die zuerst Messwerte aufnehmen und sich später die Datendynamik anschauen. „Es ist also besser, von Anfang an zu schauen, was sich zusammen verändert. Drehe ich an dem einen Rad, passiert was an dem anderen. Später kann man dann Funktionswerte zuordnen“, sagt Digel.

Gleichzeitig stellt sich das Labor in einem anderen Forschungsprojekt die Frage, wie es die Lehrerausbildung weiterentwickeln kann. Was müssen Studierende können, um die vom Mathematik-Labor genutzten Apps, wie etwa GeoGebra – eine Mathematik-App für den Unterricht in der Sekundarstufe, die Algebra, Analysis und Geometrie verbindet – gewinnbringend einsetzen zu können? Wie kann eine Lehrkraft entscheiden, was für wen geeignet ist? Welche digitalen Unterrichtskompetenzen brauchen die Lehrer? Auch in diesem Forschungsfeld warf die Corona-Pandemie zwei neue Fragestellungen auf, wie Doktorand Henrik Ossadnik erläutert: „Zum einen haben Lernende durch Homeschooling Lernrückstände und es bilden sich Kompetenzunterschiede. Zum anderen wollen wir mit der Forschung dem wenig ausgeprägten Praxisbezug für die Studierenden entgegenwirken und Theorie und Praxis bereits früh im Studium verzahnen.“ Mit dem Förderprojekt „MatheLift“ (Mathematik im Lehr-Lern-Labor intensiv fördern und trainieren) sollen diejenigen gefördert werden, die durch Corona zurückgeblieben sind. Mit dem Lehr-Lern-Praktikum „MatheLead“ (Mathematik Lehren eigenverantwortlich authentisch digital) sollen Studierende dabei unterstützt werden, genau solche Schüler adressieren und individuell fördern zu können.

Studierende sollen im Mathematik-Labor lernen, wie sie Apps wie GeoGebra gewinnbringend in den Unterricht einbringen können. Foto: Henrik Ossadnik

Kompetenzfacetten der Studierenden entwickeln

Das Projektteam untersucht, wie man mit individualisierten Förderkursen im Labor Lernende auf der verstehensbasierten Ebene unterstützten kann. Dabei werden zum einen die angehenden Lehrkräfte auf inhaltlicher Ebene ausgebildet. Zum anderen sollen im Rahmen des Forschungsprojekts motivationsfördernde Aspekte entwickelt werden. „Schüler, die nachmittags nach der Schule freiwillig zum Mathematik-Labor kommen, haben meist Probleme an der einen oder anderen Stelle. Wir schauen, wie wir zum Beispiel auf die Selbstwirksamkeit der Schüler Einfluss nehmen können“, sagt Ossadnik. Digel ergänzt: „Schüler brauchen das Gefühl, dass sie das Gelehrte selbst verstehen können. Es muss sie nicht jemand über das Verstehen hinübertragen. Das ist mit Motivation gemeint.“ Im Nachmittagsbereich werden Studierende im Lehr-Lern-Praktikum eingesetzt. Das Projektteam beforscht die Frage, wie sich das Praktikum auf alle möglichen Kompetenzfacetten der Studierenden auswirkt.

Die Studie wird aktuell ausgewertet durch Prä-Post-Tests und Reflexionsbögen. Zuvor wurde das fachdidaktische Fachwissen der angehenden Lehrkräfte abgefragt, was in die Auswertung miteinfließt. Das Mathematik-Labor strebt weitere Kooperationen mit mehr Schulen an. Die Lehramtsstudierenden sollen dadurch noch mehr Möglichkeiten erhalten, das Gelernte in der Praxis mit Schülergruppen anzuwenden und die Forscher daraus noch mehr ableiten können.

Methoden sind für jeden funktional

Ob im Schüler-Labor, bei der Ausbildung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern oder gar bei der Weiterbildung ausgebildeter Lehrkräfte – im Mathe-Labor wird forschungsbasiert entwickelt, empirisch nachgewiesen, auf Funktionalität geprüft und gegebenenfalls nachfokussiert. „Die Klassen kommen zu uns, wir nehmen Videodaten auf und werten Forschungsseminare, Abschlussarbeiten und Doktorarbeiten aus“, sagt Digel. „Wir haben auch Zugriff auf Lehrkräfte in der Schule, die in der Schulpraxis unsere didaktischen Konzepte  erproben. Durch unsere digitalen Angebote erreichen wir sogar Schulen außerhalb des Landauer Raums.“ So haben die Forscher beispielsweise schon eine Experimentierbox an eine Schule nach Friesland geschickt und diese per Videokonferenz angeleitet. Die Schüler haben sich die Inhalte dann selbst erarbeitet. Schulen können sich diese Boxen auf Anfrage vom Labor entweder für ihre jeweiligen Klassen oder für die Einzelnachhilfe an der Schule zusenden lassen. Durch die Erfolge, die Schüler nach dem Experimentieren mit den Boxen verzeichneten, sei nochmal deutlich geworden, dass das Selbsterarbeiten von Lerninhalten und somit das Aufarbeiten von Wissenslücken auch über die Distanz und neben dem klassischen Unterricht funktioniert.

Das verständnisbasierte Lernen führe auch dazu, so Roth, dass nicht nur Gymnasialschüler, sondern auch Schüler aus Gesamtschulen gleichermaßen die Möglichkeit haben, ihre Wissenslücken zu schließen: „Unsere Studien haben nachgewiesen, dass durch den experimentellen Zugriff sowohl schwache als auch starke Schüler, in Einzel- und in Partnerarbeit, vor Ort oder über Distanz deutlich erfolgreicher lernen als im normalen Durchschnitt. Und das hört nicht nach der Schule auf, sondern geht im Studium weiter. Unsere Methoden sind durchgängig funktional.“

Aha-Effekte auch in der Oberstufe

Auch Schüler der Oberstufe würden von den Lerninhalten des Mathematik-Labors profitieren, sagt Digel: „Wie sollen Schüler eine Kurvendiskussion durchführen, wenn sie kein Verständnis von Änderungsraten haben. Wir haben einen Vorbereitungskurs für die Oberstufe entwickelt. Auch da gibt es noch Aha-Effekte.“

Für das Projektteam steht nun die Auswertung seines Forschungsprojekts an. Für Digel ist klar, dass bei kommenden Promotionsarbeiten des Mathematik-Labors digitalen Kompetenzen eine immer größer werdende Wichtigkeit zukommt. Aktuell wird etwa an einer webbasierten Lern-und Entwicklungsumgebung gearbeitet, mit der laut Digel folgende Forschungsfragen untersucht werden: „Wie muss sich die Lernumgebung anpassen an die Lernenden? Je nach Schüler bieten wir ihm unterschiedliche Sachen an, das macht das System selbstständig.“

Prof. Dr. Jürgen Roth ist seit 2009 Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Er war mehrere Jahre als Gymnasiallehrer mit den Fächern Mathematik und Physik tätig und wurde 2005 zum Dr. rer.nat. in Didaktik der Mathematik promoviert. Seine Arbeitsgebiete umfassen mathematische Begriffsbildung, Lehr-Lern-Labore, den Einsatz digitaler Technologien im Mathematikunterricht, digitale Lernumgebungen, forschendes Lernen und die Entwicklung prozessdiagnostischer Kompetenz von Lehramtsstudierenden mit Hilfe von Videovignetten. Foto: Karin Hiller

Susanne Digel war seit 2010 als Studienrätin mit den Fächern Mathematik, Physik und Informatik an einem Gymnasium in Berlin sowie an einer integrierten Gesamtschule in Speyer tätig. Sie war 2015-2019 Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs „UpGrade“ der Universität in Landau und promovierte dort zur „Messung von Modellierungskompetenz in Physik“. Seit August 2019 forscht sie als Post-Doc in der Arbeitsgruppe Didaktik der Mathematik (Sekundarstufen) am Institut für Mathematik der Universität in Landau im Entwicklungsverbund der Deutschen Telekom-Stiftung „Die Zukunft des MINT-Lernens“ zu digital-gestütztem Experimentieren zu Funktionen. Aktuell vertritt sie die Professur für Didaktik der Sekundarstufe an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Foto: Karin Hiller

Henrik Ossadnik studierte in Landau Mathematik und Biologie auf gymnasiales Lehramt. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Arbeitsgruppe Didaktik der Mathematik (Sekundarstufen) am Institut für Mathematik der Universität in Landau. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Entwicklung professioneller Handlungskompetenzen von Lehrkräften im Rahmen von Lehr-Lern-Praktika. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit der Frage, wie Stochastikunterricht in der Oberstufe aussehen und in Zukunft (bspw. durch digitale Elemente) weiterentwickelt werden muss, um erfolgreich zu sein. Foto: Karin Hiller

Weiterführende Literatur:

Digel, S., Engelhardt, A. & Roth, J. (2022). Digital gerahmte Experimentierumgebungen als dynamischer Zugang zu Funktionen. In J. Roth, M. Baum, K. Eilerts, G. Hornung, & T. Trefzger (Hrsg.). Die Zukunft des MINT-Lernens – Band 2: Digitale Tools und Methoden für das Lehren und Lernen. Wiesbaden: Springer Spektrum.

Engelhardt, A., Ossadnik, H., Digel, S. & Roth, J. (im Druck). Hybrides Lehr-Lern-Praktikum – Individualisierung mit Grundvorstellungen. In: M. Meier, K. Ziepprecht, M. Hammann, R. Wodzinski, & G. Greefrath (Hrsg.) Lehr-Lern-Labore und Digitalisierung – Band 2: Innovative Lehr-Lernräume für Digitalisierung. Wiesbaden: Springer Spektrum.

Lichti, M. & Roth, J. (2018). How to Foster Functional Thinking in Learning Environments Using Computer-Based Simulations or Real Materials. Journal for STEM Education Research, 1(1-2), pp. 148-172. DOI: 10.1007/s41979-018-0007-1

Rolfes, T., Roth, J. & Schnotz, W. (2020). Learning the Concept of Function With Dynamic Visualizations. Frontiers in Psychology, 11:693. DOI: 10.3389/fpsyg.2020.00693 

Roth, J. (2020). Theorie-Praxis-Verzahnung durch Lehr-Lern-Labore − Das Landauer Konzept der mathematikdidaktischen Lehramtsausbildung. In B. Priemer & J. Roth (Hrsg.), Lehr-Lern-Labore − Konzepte und deren Wirksamkeit in der MINT-Lehrpersonenbildung (S. 59-83). Heidelberg: Springer Spektrum. DOI: 10.1007/978-3-662-58913-7_5

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