Integration durch Bildung

Wie kann Bildung vielfältiger werden? Wie lassen sich Grenzen im Kopf – auch bei Lehrkräften und Studierenden – abbauen? Am Campus Landau wird dazu geforscht. Foto: Colourbox

Die Kämpfe in der Ukraine halten an. Flüchtende zieht es in andere Länder – auch nach Deutschland. Unter ihnen sind Zehntausende Kinder und Jugendliche, die schulpflichtig sind. Die Kultusminister hierzulande haben eine Taskforce eingerichtet: Diese soll helfen, die Integration von Flüchtlingskindern zu bewerkstelligen. Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, erklärte, dass man sich in der Verantwortung fühle, geflüchtete Schülerinnen und Schüler unbürokratisch an Schulen willkommen zu heißen. Die meisten Bundesländer richten dafür zusätzliche Klassen ein: Je nach Bundesland heißen diese Willkommensklassen, Vorbereitungsklassen, Intensivklassen oder Deutschklassen. Und je nach Modell kann das heißen, dass diese Kinder erst nach einem Jahr in die Regelklassen wechseln. „Dabei wäre es besser, sie nicht separiert zu beschulen“, meint Professorin Dr. Lisa Rosen, die im Bereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Bildung am Campus Landau forscht und lehrt.

„Für die geflüchteten Kinder wäre es wichtig, möglichst schnell mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen, die bereits länger in Deutschland leben.“ Das erleichtere ihnen das Ankommen in einem für sie noch fremden Land. Lisa Rosen ist in der Thematik zu Hause: Im Rahmen ihrer Forschung geht sie der Frage nach, wie sich unsere Gesellschaft – und insbesondere das Bildungssystem hierzulande – inklusiver gestalten ließe. Also, wie Vielfalt gelingt, wie ein stärkeres Miteinander entsteht. Sie betreibe erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung, ordnet es Rosen ein – und keine Migrantinnen- und Migrantenforschung: „Es geht nicht darum, wir sind hier – und da sind die anderen.“ Vielmehr wolle sie mit ihrer Arbeit den Blick auf die Migrationsgesellschaft insgesamt lenken und Gemeinsamkeiten herausstellen. Gemeinsamkeiten, die ein Gewinn für alle sein können.

Sensibilisiert ein Auslandsaufenthalt für inklusive Bildung in der Migrationsgesellschaft?

So untersucht Lisa Rosen beispielsweise, wie man Lehrkräfte in die Lage versetzt, Bildungsangebote inklusiver auszurichten. Dabei will sie wissen, ob Lehrerinnen und Lehrer mit Auslandserfahrung sensibler mit dem Thema umgehen: „Aufgrund ihrer Biografie könnte man durchaus annehmen, dass sie offener sind für migrationspädagogische Bildungsansätze.“ Ganz konkret gehe es in einem ihrer Forschungsprojekte um Lehrkräfte, die für drei bis sechs Jahre an einer deutschen Schule im Ausland unterrichtet haben – „und danach in das deutsche Schulsystem zurückgekehrt sind“.

Dort in den deutschen Schulen werde auf Deutsch unterrichtet, erklärt Lisa Rosen. „Deutsch ist aber in vielen Fällen gar nicht die Familiensprache dieser Kinder.“ Vielmehr sei Deutsch für sie eine Zweitsprache. Im Rahmen ihrer Befragungen hat Lisa Rosen herausgefunden: „Der Umgang der Lehrkräfte mit der deutschen Sprache war während des Auslandsaufenthalts recht locker.“ Sie seien Fehler-freundlicher gewesen, offen für translinguale Sprachpraktiken: „Sie haben nicht so strikt auf Grammatik geachtet. Inhalte standen mehr im Vordergrund als das korrekte Anwenden der deutschen Sprache.“ Kurzum: Als Lehrende haben sie ihren Schülerinnen und Schülern mehr sprachliche Freiheiten gelassen, ihnen den Erwerb des Deutschen mit den bereits vorhandenen Sprachen ermöglicht und diese nicht ausgeschlossen.

Interessanterweise, so berichtet es Lisa Rosen weiter, gingen dieselben Lehrkräfte dann aber zum Teil ganz anders vor, als sie in das deutsche Schulsystem zurückgekehrt sind: Sie haben die Lockerheit im Umgang mit Mehrsprachigkeit verloren: „Sie fielen in alte Muster zurück, waren beim Sprachgebrauch wieder viel strenger, insistierten auf Einsprachigkeit.“ Woran das liegt? Lisa Rosen meint: Möglicherweise gestehen sie anderen mehr sprachliche Freiheiten zu, wenn sie selbst fremd in einem Land sind. Und – wieder zurück in Deutschland – passen sie sich an das hiesige System an. Ein System, das etwa auch Mehrsprachigkeit noch immer viel zu wenig zulasse, wie Rosen sagt. So werde mehrsprachigen Kindern durchaus untersagt, in der Schule ihre Familiensprache zu gebrauchen. Lisa Rosen: „Dabei könnten wir das gesamte sprachliche Repertoire nutzen, um sprachliche Bildung zu gestalten.“ Also auch ein Zusammenspiel von Deutsch und den weiteren Sprachen der Kinder. Hier müssten die Schulen offener werden, meint die Professorin.

Doch genau das ist leider gar nicht so einfach, wie eine weitere Untersuchung von Lisa Rosen bestätigt: Hierbei habe sie Lehrkräfte befragt, die selbst mehrsprachig aufgewachsen sind, die selbst einen Migrationshintergrund haben. „Trotz ihrer Biografie tun auch sie sich schwer damit, Mehrsprachigkeit im Unterricht zuzulassen.“ Das gelinge erst, wenn mehrere Kolleginnen und Kollegen mit demselben Ziel an einer Schule seien: „Wenn vielleicht zwei bis drei weitere Lehrkräfte Mehrsprachigkeit einbringen möchten, dann lässt sich oftmals auch etwas umsetzen.“ Einzelkämpfer kommen aber schnell an ihre Grenzen gegenüber einem System, „das monolingual und mehrheitsgesellschaftlich orientiert ist“.

Helfende und Geflüchtete: Begegnung auf Augenhöhe 

Doch nicht nur Schule und Bildung stehen bei Lisa Rosen im Fokus. Sie will auch herausfinden, wie die Gesellschaft insgesamt inklusiver werden kann. So ist einer ihrer weiteren Forschungsschwerpunkte der Umgang mit Geflüchteten in der Sozialen Arbeit. Die Professorin erklärt: „Ich schaue mir die Machtungleichheit zwischen Geflüchteten und ehrenamtlich Helfenden an. Wie nehmen beide Seiten diese wahr?“ 

Dafür habe sie sich mit ihrem Team Patenschaftprojekte angeschaut – und zunächst die dort Helfenden befragt, „ob und wie diese eine solche Ungleichheit empfinden“. Bei den Helfenden sei zu beobachten gewesen, so fasst es Rosen zusammen, dass sie Mitleid haben, „angesichts der schwierigen Situation, in der sich die Geflüchteten befinden“. Zugleich werden sich die Helfenden aber auch ihrer eigenen Privilegien bewusst: „Etwa wenn sie erkennen, welche Schwierigkeit Geflüchtete haben, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu finden – sofern sie überhaupt eine Arbeitserlaubnis erhalten.“ Oder auch in den Unterkünften, „wie diese ausgestattet sind. Oft gibt es nicht einmal richtige Spielgelegenheiten für die Kinder.“ Und das alles in Anbetracht der Traumata, die diese Menschen noch lange nicht verarbeitet haben. „Zugleich ist da auch der Rassismus, dem Geflüchtete an vielen Stellen in Deutschland begegnen.“

Bei den Geflüchteten indes, so schildert Lisa Rosen ihre Untersuchungsergebnisse weiter, bestehe ein großes Gefühl der Dankbarkeit. „Sie würden sich bei den Helfenden gerne revanchieren.“ Aber das sei aufgrund ihrer begrenzten Mittel natürlich schwierig.

Wie könnte man also diese negativen Aspekte abbauen, die einerseits aufseiten der Geflüchteten, andererseits aufseiten der Helfenden wahrgenommen werden? Oder anders gefragt: Wie können sich Helfende und Geflüchtete auf Augenhöhe begegnen? Lisa Rosen zieht als Erkenntnis aus ihren Beobachtungen: „Gemeinsamkeiten suchen, nicht die Unterschiede herausstellen. Gemeinsame Hobbys und Interessen entdecken. Warum stellen Helfende Geflüchteten nicht einfach ihre Lieblingsorte vor?“ Es gehe darum, mehr das Positive in den Vordergrund zu stellen. Genau das könne auch in der aktuellen Situation helfen: Menschen aus der Ukraine könnten in gemeinschaftliche Erlebnisse mit einbezogen werden.

Wie kann man Studierende für mehr Heterogenität sensibilisieren?

Mehr das Gemeinsame in den Vordergrund stellen – eine Herangehensweise, die Integration und Inklusion gelingen lassen kann. Fragt man Lisa Rosen nach zukünftigen Forschungsprojekten, so berichtet sie, dass sie der Frage nachgehen will, inwieweit die Bildung an Hochschulen diverser gestaltet werden könne. Dazu stellt sie aktuell internationale Vergleiche an. So will sie im Rahmen eines Projektes wissen, wie sich die Situation in Brasilien, Norwegen, Japan und Deutschland darstellt: „Wie geht es den dortigen Kolleginnen und Kollegen, die sensibel machen wollen für Heterogenität?“ Erste Erkenntnisse gibt es: In Japan oder Brasilien sei es viel selbstverständlicher als bei uns, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen – also die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen zu ermöglichen.

„In anderen Ländern ist das Bewusstsein für Diversität viel ausgeprägter“, ergänzt Rosen, „es wird dort einfach gemacht.“ Bei uns in Deutschland sei das in dieser Konsequenz nicht zu beobachten. Hierzulande gebe es nach wie vor Grenzen in den Köpfen. Und das auch an Hochschulen, wie sie berichtet: „Dozenten nehmen Vorbehalte wahr.“ So sei von Lehramtsstudierenden durchaus zu hören, dass sie nicht mit Kindern mit Behinderung arbeiten möchten, da sie keine Sonderpädagogik studieren. 

„An diese Einstellung müssen wir ran“, sagt Lisa Rosen. Das Kernproblem sieht sie im deutschen Schulsystem, in der Struktur: „Anti-inklusive Einstellungen werden hier regelrecht gelernt und befördert.“ Denn im deutschen Schulsystem werde viel zu viel selektiert und damit der Irrglaube an Homogenität befördert: „Direkt nach der Grundschule etwa in die weit verzweigten weiterführenden Schulen. Oder auch, wenn man das Klassenziel nicht erreicht, dass man sitzen bleibt. Dass wir eine so hohe Anzahl an Förderschulen aufweisen.“ 

Lisa Rosen will der Frage nachgehen, ob und wie sich Denkmuster bereits in der Lehrer- und Lehrerinnenbildung ändern lassen. Erste Ansätze: Sie möchte Studierende aus verschiedenen Ländern in einem Seminar zusammengebringen. So könne sich darüber ausgetauscht werden, wie Heterogenität in anderen Ländern gelingt. Lisa Rosen: „Es geht um den Blick über den eigenen Tellerrand. Es geht darum, das eigene Denken zu hinterfragen.“ Ein schwieriges Unterfangen, wie sie ergänzt. „Studierende waren in der Regel selbst 13 Jahre in der Schule. Und das prägt. Monolinguale und mehrheitsgesellschaftliche Denkmuster lassen sich nicht mal eben so abstellen.“ Mit ihrer Arbeit zeigt Lisa Rosen erste Schritte auf. Schritte in Richtung eines stärkeren Miteinanders.

Prof. Dr. Lisa Rosen studierte Lehramt für die Primarstufe sowie Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunktfach „Interkulturelle Kommunikation und Bildung“ und dem Wahlpflichtfach „Beratungsmethoden“ an der Universität zu Köln. Anschließend promovierte sie in Erziehungswissenschaften. Nach einer Juniorprofessur für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Kommunikation und soziale Intervention am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln (2010-2015) bekleidete sie die Universitätsprofessur für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück (2015-2017). Von 2017 bis 2020 lehrte und forschte sie als Universitätsprofessorin für Erziehungswissenschaft und als wissenschaftliche Leiterin der inklusiven Universitätsschulen an der Universität zu Köln. Seit November 2020 ist sie als Universitätsprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Bildung am Campus Landau tätig. Bei der EERA (European Educational Research Association) fungiert sie als Sprecherin des Netzwerkes „Social Justice and Intercultural Education“ und bei der DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft) als Ko-Sprecherin der AG Inklusionsforschung. Foto: Lisa Rosen.

Wissenschaftliche Veröffentlichungen (eine Auswahl):

Rosen, Lisa & Jacob, Marita (2022): Diversity in the Teachers’ Lounge in Germany – Casting Doubt on the Statistical Category of “Migration Background”. In: European Educational Research Journal, 21(2), pp. 312-329. 

Rosen, Lisa & tom Dieck, Fenna (2022): „Can I tell my class teacher?“ – Newly Arrived Youth Between Language Support Measures and Regular Classes in the Contemporary German School System. In: Tertium Comparationis, 28(2), pp. 213-233.

Fißmer, Janine; Rosen, Lisa & tom Dieck, Fenna (2022): Freiwilligenarbeit in der Flucht*Migrationsgesellschaft: Macht als zentraler erziehungswissenschaftlicher Begriff in der Rekonstruktion studentischer Erfahrungen. In: Sturm, Tanja et al. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Grundbegriffe im Spiegel der Inklusion(sforschung). Tagungsband der 4. Tagung der DGfE-AG Inklusionsforschung. Opladen: Verlag Barbara Budrich (im Druck).

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