Fußballprojekt Miteinander: Wenn Spieler und Schiedsrichter ein Team sind

Spieler und Schiedsrichter entscheiden zusammen. Wie hier beim Spiel des VfB Haßloch gegen den 1. FC 08 Haßloch am 21. August 2021. Wie gut das gemeinsame Entscheiden funktioniert, beleuchtet das Projekt „Miteinander“, das an der Universität in Landau gesellschafts- und sportsoziologisch betreut wird. Foto: Ralf Klohr

Gewalt gegen Schiedsrichter ist im Amateurfußball längst keine Seltenheit mehr. Immer weniger junge Menschen wollen sich deshalb in dem Bereich ehrenamtlich engagieren. Silke Sinning, Professorin für Sportpädagogik und Sportsoziologie, will mit dem Projekt „Miteinander! Für einen fairen Kinder- und Jugendfußball“ dem Rückgang der Schiedsrichterzahlen entgegenwirken. Schiedsrichter sollen dabei entlastet werden und mit den Spielern als Team agieren. Dadurch soll sich nicht nur die Persönlichkeit der Spieler, sondern auch das Spiel an sich weiterentwickeln.

Ob Spieler, Betreuer oder sogar Zuschauer, immer wieder kommt es auf den Sportplätzen zu Zwischenfällen mit den Unparteiischen. Dabei werden oft die jungen, unerfahrenen Referees ins Visier genommen. Was das Berufsbild immer unattraktiver macht. Sportwissenschaftlerin Silke Sinning schildert ein aktuelles Beispiel, wo es bei einem Jugendspiel zu einem Polizeieinsatz kam, weil der Vater eines Spielers den 15-jährigen Schiedsrichter geschlagen hatte. Was macht diese Entwicklung auf dem Platz mit den Spielleitern? In einer Umfrage fand sie mit ihrer Kollegin, Kriminologin der Universität Tübingen Dr. Thaya Vester, heraus, dass 24 Prozent der befragten Schiedsrichter sich über mangelnde Anerkennung auf dem Platz beklagten. 18 Prozent hätten bereits selbst negative Erfahrungen gesammelt, 16 Prozent würden Nachrichten von verbalen und körperlichen Übergriffen abschrecken und ebenfalls 16 Prozent sehen das Schiedsrichterdasein nicht als attraktives Hobby. Die Folge: im vergangenen Jahr habe es in Deutschland rund 14 Prozent weniger Schiedsrichter gegeben, im U-18-Bereich seien es sogar fast 24 Prozent gewesen.

Um dem entgegenzuwirken, haben Silke Sinning und Thaya Vester gemeinsam mit Ralf Klohr, dem Initiator der Fair-Play-Liga, das Fußballprojekt „Miteinander“ ins Leben gerufen. Und der Name ist dabei Programm. Denn Schiedsrichter und Spieler sollen hier im Jugendbereich gemeinsam Entscheidungen treffen und so die Unparteiischen entlasten. „Die Spieler entscheiden, wer den Ball an der Außenlinie und im Toraus bekommt. Alle anderen Entscheidungen wie Tor, Foul oder Abseits entscheidet der Schiedsrichter“, sagt Sinning. Bei Uneinigkeit helfen die Schiedsrichter.

Spieler und Schiedsrichter bilden gemeinsames Team

Das Ganze findet bislang nur in der D-Jugend statt. Das Projekt „Miteinander“ soll auf der von Ralf Klohr entwickelten Fair-Play-Liga aufbauen, die sich seit der Saison 2017/18 bundesweit in den Spielklassen der G- bis E-Junioren etabliert hat. In der Fair-Play-Liga gibt es keine Schiedsrichter. Die Spieler entscheiden hier alles selbst. Im Zweifel helfen die Trainer. „Wir wollen mit unserem Projekt auch den Bruch von E- zu D-Jugend verringern, da ab der D-Jugend erstmals Schiedsrichter eingesetzt werden“, sagt Sinning. „Wir wollen den Spielern mit dem Projekt das Gefühl geben, weiterhin mitverantwortlich zu sein und ein gemeinsames Team mit den Schiedsrichtern zu bilden. So soll ein respektvoller und kommunikativer Umgang miteinander gelehrt werden.“ Studien im Jugendbereich würden dabei zeigen, dass wer mitentscheiden kann, länger dabeibleibt und sich so stärker mit dem Verein und dem Sport identifizieren kann.

Sinning berichtet von einem Projekt in Schleswig-Holstein, wo das gleiche Prinzip im Erwachsenenbereich getestet wurde. „Das Projekt ist aber im Erdboden versunken, weil die Erwachsenen das nicht so gut hinbekommen haben“, sagt Sinning. Bei Spielern aus dem Jugendbereich sei es einfacher, den Fairplay-Gedanken zu übermitteln, da diese zuvor schon unter diesem spielten.

Spiel wird schneller und effektiver

Sinnings Aufgabe liegt beim Projekt darin, das Projekt gesellschafts- und sportsoziologisch zu betreuen. Vester beurteilt die Bereiche Gewalt und Aggression. Das Projekt startete zunächst im Kreis Rhein-Mittelhaardt mit Freundschaftsspielen und Turnieren. Gemeinsam mit Studierenden haben die Wissenschaftlerinnen quantitativ erhoben, wie viele Aus-Situationen es im Spiel überhaupt gibt. „Wir sind im Schnitt auf etwa 70 bis 80 Prozent aller Entscheidungen gekommen. Das heißt, der Schiedsrichter entscheidet dann nur 20 bis 30 Prozent“, sagt Sinning. So könnten sich die Unparteiischen auf die zentralen, wichtigeren Entscheidungen konzentrieren.

Zusätzlich haben Sinning und Vester qualitative Interviews mit den direkt beteiligten Personen geführt. In ersten Ergebnissen äußerten sich die Trainer, dass das Spiel durch die Regelungen schneller und effektiver geworden sei, weil sich die Spieler schnell den Ball schnappen und weiterspielen. Aber auch die Trainer selbst hätten sich weiterentwickelt. „Sie können klarere Anweisungen für das Spiel geben und können die Zeit nutzen für Ansagen und Motivation“, erklärt Sinning. Das Spielniveau habe sich laut den befragten Trainern insgesamt verbessert. Was den Trainern zudem gefiel, sei die ruhigere Atmosphäre gewesen. Da Zuschauer nicht über die Entscheidungen ihrer eigenen Schützlinge oder Sprösslinge meckern würden, seien so 70 bis 80 Prozent weniger Buhrufe möglich.

Faires Miteinander vor sportlichem Erfolg

Sinning und Vester arbeiten viel mit den Trainern zusammen. Auch wenn das Spiel den Akteuren von allein vermitteln soll, dass das faire Miteinander über dem sportlichen Erfolg steht, so sollen die Trainer auch helfen, den Spielern zu erläutern, was der Spielgedanke ist. „Die Trainer sollen als Vorbilder selbst deutlich machen, dass jeder mitverantwortlich für die Gesamtsituation ist“, führt Sinning weiter aus.

Auch die Mehrzahl der Spieler war bei den Befragungen der Meinung, dass das Spiel nun schneller sei, was ihnen gefiel. Für sie sei es in der Regel unkompliziert gewesen, die Entscheidungen zu treffen. Diskussionen gab es selten. Lediglich bei zwei bis fünf Prozent der Entscheidungen hätten die Spieler nochmal nachdenken müssen.

Schiedsrichter können sich besser aufs Spiel konzentrieren

Die befragten Schiedsrichter fühlten sich laut Sinning in der Tat deutlich entlastet. „Viele haben gesagt, dass sie sich so besser auf das gesamte Spiel konzentrieren konnten, weil sie nicht ständig Entscheidungen an der Außenlinie anzeigen müssen. Sie konnten dafür zum Beispiel besser darauf achten, wenn Spieler im Abseits stehen“, sagt Sinning.

Studierende befragten nach dem Spiel Trainer, Spieler und Schiedsrichter nach ihren Eindrücken zu den neuen Regelungen. Foto: Ralf Klohr

Von Seiten der Schiedsrichterverantwortlichen käme laut Sinning meist der Kritikpunkt, dass den Schiedsrichtern so Situationen genommen werden, bei denen sie sich entscheiden müssen. Was gerade junge Schiedsrichter doch lernen müssten. „Mein Argument dagegen ist aber: Auch ein Spieler ist nicht die ganze Zeit selbst am Ball. Er muss dennoch das Spiel verfolgen, sich positionieren und muss auch abseits des Geschehens Entscheidungen treffen. So ist das auch beim Schiedsrichter“, findet Sinning. Die Schiedsrichter dürfen die Auslinie also nicht komplett aus den Augen verlieren, da sie im Zweifel doch die Entscheidung treffen müssen.

Meisterrunde womöglich ab Herbst

Sinning und Vester hätten gerne schon mehr Spiele und Turniere mit den Regelungen veranstaltet, um mehr Ergebnisse evaluieren zu können, aber Corona machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Bis jetzt konnten wir zu wenige Turniere und Spiele durchführen. Zudem mussten wir die Vereine immer wieder von neuem überzeugen, an dem Projekt teilzunehmen. Wir haben aber im Frühjahr zwei Turniere mit bis zu sechs Mannschaften und weitere zehn Freundschaftsspiele geplant“, sagt Sinning. Ab Herbst soll dann womöglich bereits eine Meisterrunde mit den Miteinander-Regeln stattfinden.

Um die austragenden Vereine der Spiele und Turniere zu unterstützen, die Schiedsrichter zu bezahlen und in der Universität besser Mittel zur Verfügung zu haben, haben die Projektleiter einen Antrag an die Dietmar-Hopp-Stiftung gestellt. Zur künftigen Evaluation wollen Sinning und Vester weiter mit studentischen Hilfskräften arbeiten. „Wir haben Beobachtungsbögen und einen Leitfaden, mit dem die Studierenden arbeiten können. Um das Projekt flächendeckend umsetzen zu können, brauchen wir mehr Studentenpower“, so Sinning. Die Projektleiterinnen haben auch Kontakt zum Spitzensport aufgenommen und in Nachwuchsleistungszentren nachgefragt, wie diese das Projekt sehen. „Sie finden es gut, wenn Spieler in Entscheidungen eingebunden sind und so ganz bewusst das Spiel schneller wird“, berichtet Sinning.

Demokratische Kompetenz und Persönlichkeit weiterentwickeln

Die Sportwissenschaftlerin erhofft sich durch die Entwicklung der Spieler auf dem Platz auch einen positiven Effekt außerhalb der Rasenfläche. Sie verspricht sich langfristig von dem Projekt, dass sich die Kinder stärker in ihrer demokratischen Kompetenz und ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln. Sie sollen spüren, dass es wichtig ist, respektvoll und solidarisch miteinander umzugehen, gleichzeitig aber auch selbstbestimmt zu sagen, was ihnen wichtig ist. Auch der hohen Fluktuation im Schiedsrichterwesen soll damit entgegengewirkt werden. Stück für Stück soll das Projekt in den kommenden Jahren dann in höhere Jugenden hineingetragen werden.

Sinning und Vester haben bereits einen Vortrag beim deutschen Präventionstag gehalten. Hier geht es nicht generell um die Gewaltprävention im Sport. Die beiden wollen mit dem Vortrag auch deutlich machen, dass Kinder durch einen respektvollen und solidarischen Umgang miteinander davor geschützt werden müssen, selbst zum Täter zu werden und gleichermaßen auch nicht in die Opferrolle zu gelangen. Sie wollen zeigen, dass es immer eine Diskussionsgrundlage geben sollte und im Zweifel ein dritter Entscheidungsfinder hinzugeholt werden sollte – was im Falle des Miteinander-Projekts der Schiedsrichter ist.

Wo kommt das Gewaltpotenzial her?

In weiteren Gewaltpräventionsstudien wollen sie auch schauen, wo welches Gewaltpotenzial herkommt. „Geht die Gewalt vom Akteur selbst aus, dann schauen wir zunächst, ob es mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun hat oder in welchem sozialen Kontext die Person groß geworden ist. Des Weiteren untersuchen wir den gruppenbezogenen Ansatz“, erläutert Sinning. Gruppenbezogen bedeutet zum Beispiel, wenn die Gewaltbereitschaft vom Zuschauer ausgeht, oder der Akteur einer gewissen Gruppe angehört und so als einer von vielen in aggressionsbereite Situationen gelangt.

Neben dem Kreis Rhein-Mittelhaardt wurde das Projekt bereits an drei Kreise in Hessen weitergegeben. Dort wird es auch in den Schulbereich eingebunden, um bereits in der Schule das Interesse für das Schiedsrichterdasein zu wecken. „Das Projekt entwickelt sich in den unterschiedlichen Landkreisen in Teilprojekte. In einem Kreis in Hessen pfeifen zum Beispiel bewusst nur A-Jugendliche die Spiele der D-Jugendlichen“, sagt Sinning. Das Ziel des Projekts sei es, dass alle Landesverbände die Reglungen langfristig umsetzen. Wenn das geschafft sei, könne man den Schritt in die C-Jugend wagen.

Forschungsmethoden verbessern

„Miteinander“ hat keinen zeitlichen Rahmen. Die Evaluierungsbögen werden aktuell noch von Spiel zu Spiel verbessert und auch die Interviewleitfäden werden konkretisiert. In den Meisterrunden sollten dann final ausgearbeitete Leitfragen und Beobachtungsbögen zur Verfügung stehen. „Ich freue mich darauf, dass wir jetzt konkreter starten können und vielfältigere Antworten bekommen und auswerten können. Danach werden wir unsere Aufgabe etwas ruhen lassen und unsere Publikationsergebnisse nach außen tragen. Als nächstes schauen wir dann, welche Auswirkungen die Regelungen auf die Meisterschaftsrunde haben und wägen ab, ob weitere Evaluationen sinnvoll sind“, sagt Sinning. Sie kann sich vorstellen, dass zum Beispiel in größeren Städten oder im Mädchenbereich ein weiterer Fokus gelegt werden kann.

Silke Sinning ist seit 2010 Professorin für Sportpädagogik/-didaktik sowie Sportsoziologie an der Universität Koblenz-Landau. Nach ihrem Studium auf gymnasiales Lehramt mit den Fächern Mathematik und Sport an der Philipps-Universität Marburg arbeitete Sinning als Gymnasiallehrerin unter anderem an der Reformschule Bielefeld. 2004 promoviertes sie an der Universität Gießen mit einer Forschungsarbeit zur Thematik Frauen in Führungspositionen. Danach arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten in Marburg, Gießen und Münster und hatte Vertretungsprofessuren in Vechta und an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der konzeptionellen Fragen und Problemstellungen des Sportunterrichts (v.a. Spiel- und Sportspieldidaktik sowie Themenkonstitution), in der Genderforschung (u.a. Trainerinnen im Frauenfußball) sowie in der handlungsökologischen und pädagogischen Bewegungsforschung. Sie engagiert sich ehrenamtlich für den Fußballsport und ist derzeit als Vizepräsidenten beim DFB u.a. für die Bereiche Bildung und Wissenschaft verantwortlich. Foto: Silke Sinning

Weiterführende Informationen und Studien:

Vester, T. (2020): „So eine Fotze, die sieht doch nichts!“ – Eine empirische Annäherung an das Erleben und den Umgang mit persönlichen Diskriminierungen von Schiedsrichterinnen im deutschen Amateur- fußball. FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, Jg. 2, Heft 1, S. 22–41. 

Vester, T. & Sinning, S. (2021): „Miteinander!“ Ein neuer Ansatz für die Gewaltprävention im (Kinder-)Fußball?. forum kriminalprävention, Heft 1, S. 22–25.

Vester, T. & Steinrücke, K. (2019): „Loben statt toben!“ – Aktuelle Bemühungen des DFB zur Gewaltprävention bei Eltern im Kinderfußball. forum kriminalprävention, Heft 4, S. 17–19. 

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