Selbstverletzendes Verhalten: Der schmerzhafte Umgang mit Emotionen

Selbstverletzendes Verhalten tritt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf. Sie sehen darin ein Ventil, um mit negativen Gefühlen umzugehen. Die passende Psychotherapie kann helfen, mit dem Selbstverletzen aufzuhören. Foto: Colourbox

Erwachsenwerden ist alles andere als einfach. Eine der großen Herausforderungen, die mit dem Lösen von den Eltern einhergeht, ist es, eigene emotionale Sicherheit zu finden – ein Prozess, der nicht selten einer emotionalen Achterbahnfahrt gleicht. Es sind die negativen Emotionen – der erste Liebeskummer, Schulddruck, ein liebloses Elternteil, Scham oder Selbsthass – die einen jungen Menschen aus der Balance bringen können. Viele Jugendliche sehen im selbstverletzenden Verhalten ein Ventil, um mit diesem emotionalen Chaos klarzukommen. 

Selbstverletzungen sind unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein weit verbreitetes Phänomen. Rund 20 Prozent der jungen Menschen ritzen, schneiden oder schlagen sich selbst einmalig. „Viele merken dann aber, es tut weh und lassen es in der Folge sein“, erklärt Tina In-Albon. Die Psychologieprofessorin leitet die 2014 gegründete Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche. Das Erforschen und Therapieren von selbstverletzendem Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eines der Schwerpunktthemen in der Ambulanz. Das Landauer Team ist auch Partner im bundesweiten STAR-Projekt (Self-Injury, Treatment, Assessment, Recovery), in dem gefördert vom Bundesforschungsministerium (BMBF) die Wirksamkeit von Online-Beratung sowie aufrechterhaltende Faktoren im Längsschnitt untersucht werden. „Trotz ernst zu nehmender medizinischer und psychischer Risiken und eines hohen Leidensdrucks suchen nur wenige Betroffene Hilfe“, bedauert Tina In-Albon. Das wollen die Forschenden im STAR-Projekt ändern. 

Klinisch relevant wird das Verhalten nach aktuellen Forschungskriterien, wenn sich Jugendliche ab fünf Tagen im Jahr selbst verletzen. Konkret heißt das: 5 bis 7 Prozent der Jugendlichen verletzen sich regelmäßig selbst. Zum selbstverletzenden Verhalten zählen Ritzen, Schneiden und Kratzen, was typisch für weibliche Jugendliche ist. Junge Männer schlagen sich dagegen häufig oder stoßen sich den Kopf. Häufig verbrennen sich Jugendliche auch selbst. Dazu kommen Verhaltensweisen, die nicht eindeutig sind, beispielsweise wenn sich junge Menschen Wunden wiederholt aufkratzen. Eine massive Form, wenn auch seltener, ist das Schlucken von Klingen. „Letztendlich ist es jegliche Form der Verletzung des eigenen Körpers, die wir mittlerweile als selbstverletzendes Verhalten ansehen“, so In-Albon. Das Gros der Jugendlichen fängt zwischen zwölf und 14 Jahren an, sich erstmals selbst zu verletzen. 

Die Forschung zu selbstverletzendem Verhalten ist noch relativ jung, erklärt In-Albon. „Am Anfang war die Betrachtung sehr heterogen, man hat demnach suizidales Verhalten mit den nicht-suizidalen Selbstverletzungen vermischt betrachtet“. Mit den entwickelten Forschungskriterien wurde die Betrachtung des schon lang bestehenden und weit verbreiteten Verhaltens trennschärfer. Viele aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit der Frage, ob selbstverletzendes Verhalten etwas Eigenständiges ist oder ein störungsübergreifender Aspekt, der mit weiteren Störungen einhergeht. „Der Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen ist sehr hoch“, weiß In-Albon. Selten verletzten sich Jugendliche mehrfach, die keine anderen psychischen Störungen aufweisen. Viele hätten depressive Störungen, Angststörungen, traumatische Störungen und im späteren Verlauf Persönlichkeitsstörungen wie Borderline. 

Kurzfristige Erleichterung

„Jugendliche werden häufig von vielen negativen Emotionen übermannt und erleben das als Überforderung“, erklärt In-Albon. Im selbstverletzenden Verhalten sehen betroffene Jugendliche eine Strategie, die zumindest kurzfristig dabei hilft, mit diesen Emotionen umzugehen. „Diese kurzfristige Erleichterung wird positiv wahrgenommen und das ist letztendlich eine negative Verstärkung, da das Unangenehme und Störende weggeht“. Heißt: Befinden sich die Jugendlichen wieder in einer Situation, in der sie viele negative Emotionen erleben, führen sie diese Verletzungen wieder durch. Solche Situationen können sein, wenn die Jugendlichen sehr traurig sind, sich leer oder gar nichts fühlen. „Durch die Selbstverletzung spüre ich wenigstens etwas und somit ein bisschen mich und merke auch, wie das Negative wegfällt“, lautet eine häufige Aussage von Betroffenen. Doch langfristig, erklärt Tina In-Albon, nagt dieser verletzende Umgang mit sich selbst am Selbstbewusstsein, denn der Gedanke, ich habe es wieder nicht geschafft und bin nicht gut genug, ist ein regelrechter Teufelskreis, in dem die jungen Menschen gefangen sind. „Aus der neuropsychologischen Forschung weiß man mittlerweile, dass dieser Moment, in dem eine Erleichterung zu spüren ist, nur ganz kurz ist. In weniger als einer Stunde kehren die stark negativen Emotionen zurück“. Was genau selbstverletzendes Verhalten auslöst, darauf hat die Forschung noch keine eindeutige Antwort. Vermutlich ist es eine Mischung aus hormonellen, biologischen und sozialen Ursachen, und somit der Spagat, unabhängiger werden zu müssen und gleichzeitig noch stark in familiäre Bande eingebunden zu sein. „Das Jugendalter ist eine Lebensphase, in der wir bei vielen psychischen Störungen wie Depression einen Anstieg sehen“, verdeutlicht In-Albon dieses kritische Alter. 

Auslöser durch Ansteckung  

Mit ihrem Team hat Tina In-Albon 2020 untersucht, ob sich Jugendliche durch andere zum selbstverletzenden Verhalten anstecken lassen. So wollten die Forschenden von den befragten Jugendlichen wissen, wie sie auf die Idee gekommen sind, sich zu ritzen, zu schneiden oder zu verbrennen. Ein starkes Ansteckungspotenzial gibt es durch das private Umfeld, beispielsweise Freunde oder Geschwister, wie rund die Hälfte der Befragten angab. Aber auch soziale Netzwerke können ein Auslöser sein, das haben rund 40 Prozent der Befragten bestätigt. Aktuell untersucht die Arbeitsgruppe um In-Albon, inwiefern es einen Unterschied macht, ob Jugendliche den Inhalt von Social Media nur konsumieren oder ob sie selbst Fotos und Inhalte posten. „Wir wollen schauen, ob und inwieweit das einen Einfluss auf ihr Verhalten hat“.

Ausweg durch Therapie

Die gute Nachricht: Mit einer passenden Psychotherapie kann man den Umgang mit negativen Gefühlen lernen und Alternativen zum selbstverletzenden Verhalten erarbeiten. „Das ist ganz wichtig, da wir wissen, dass Selbstverletzung ein Risikofaktor für Suizidalität ist“, so In-Albon. Die Behandlung von nicht-suizidalem selbstverletzenden Verhalten kann somit präventiv im Hinblick auf Lebensmüdigkeit und Suizidgefährdung sein. Wichtige Voraussetzung für die passende Therapie ist eine genaue Diagnostik. „Aktuell beschäftigt uns die Frage, ob die aktuellen Diagnosekriterien gut sind“. In-Albon und ihr Team haben dafür im Rahmen des STAR-Projekts einen Fragebogen entwickelt, um den Schweregrad der Gefährdung zu erfassen. Damit wollen die Forschenden herausfinden, welche Jugendlichen, die sich selbstverletzen, auch ein erhöhtes Risiko zur Selbsttötung haben: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art des selbstverletzenden Verhaltens und einem Suizidversuch oder ist vielleicht der Körperbereich der Selbstverletzung ein Anzeichen dafür – z.B. Unterarme oder eher Körperstamm wie Brust – , ob ich eher dazu neigen könnte, mir das Leben nehmen zu wollen? Daneben kann auch die Häufigkeit, wie oft ich mich selbst verletze oder die Funktion – ich verletze mich, damit ich keinen Suizidversuch mache – einen Einfluss auf den weiteren Verlauf haben. 

Die Herausforderung ist allerdings, die Betroffenen zu professionellen Hilfsangeboten zu bekommen. „Insgesamt sehen wir, dass im Jugendalter die Barriere sehr hoch ist, Hilfe anzunehmen“, so In-Albon. „Gehen wir davon aus, dass Selbstverletzungen häufig im Rahmen anderer psychischer Störungen erfolgen, ist es für viele Betroffene unglaublich schwierig, Hilfe in Anspruch zu nehmen“. Ein zentraler Bereich im STAR-Projekt ist es daher, mit einem Online-Angebot einen niedrigschwelligen Zugang zu professioneller Hilfe zu schaffen. „Wir hoffen, dass die Jugendlichen durch den Einstieg in die Online-Hilfe sehen, dass eine Therapie nichts Verwerfliches ist und erkennen, dass es über das Online-Angebot hinaus noch weitere Hilfsmöglichkeiten gibt“. 

Das Therapieprogramm baut auf einem verhaltenstherapeutischen Ansatz auf, der in England entwickelt und beim Projektpartner Universitätsklinikum Heidelberg in Präsenzsitzungen durchgeführt wurde. „Die Therapie war sehr erfolgreich, daher haben wir sie auf eine Online-Version angepasst“, so In-Albon. Aktuell wird das Online-Angebot noch evaluiert. „Was sich bereits abzeichnet, und das hat uns selbst überrascht, dass es kaum Dropout gibt“. Die Jugendlichen, die die Online-Therapie beginnen, ziehen sie bis zum Ende durch. 

Die Online-Hilfe im STAR-Projekt umfasst neun Module. Mit einem Mix aus Videos, Bildern, Erklärungen, Quiz-Formaten und Übungen lernen die Jugendlichen die Zusammenhänge zwischen ihren Gefühlen, Gedanken und dem selbstverletzenden Verhalten kennen. Damit können sie sich erarbeiten, wie sie mit hoher Anspannung umgehen können und von Ritzen & Co. als Ventil loskommen. „Neben diesem Skillskoffer für den Umgang mit negativen Emotionen lernen die Jugendlichen in der Online-Therapie auch, was sie tun können, um gar nicht mehr in so starke Emotionen zu rutschen“, erklärt In-Albon. Oft seien das einfache, aber grundlegende Dinge wie ausreichend Schlaf, eine regelmäßige und ausgewogene Ernährung sowie Bewegung. „Wir zeigen auch, dass die Jugendlichen mit ihrem Leiden nicht allein sind und es wirksame Hilfestellungen gibt.“ 

Schutz- und Risikofaktoren

Manche Jugendliche schaffen es, von sich aus mit dem Selbstverletzen aufzuhören, viele dagegen führen die Autoaggression fort. Welches sind Schutzfaktoren und welche Ursachen sind eher ein Risiko? Das untersucht das STAR-Projekt in einem zweiten großen Bereich. „Wir schauen hier nach den Faktoren, die den Verlauf der Selbstverletzungen psychologisch, neurobiologisch und demografisch vorherbestimmen und nach solchen, die daran beteiligt sind, dass die Jugendlichen das selbstverletzende Verhalten aufrechterhalten oder hoffentlich beenden“, so In-Albon. Die Forschung weiß mehr über die Merkmale, die das Fortführen von Selbstverletzungen vorhersagen. Noch eher ungeklärt ist die Frage, welche Faktoren die Jugendlichen zum Aufhören leiten. Allerdings zeigen die Zahlen deutlich, dass nach dem Jugendalter die Zahl an Selbstverletzungen zurückgeht. „Das heißt aber nicht automatisch“, so Tina In-Albon, „dass die emotionale Welt der Jugendlichen dann in Ordnung ist“. Die Forschenden gehen davon aus, dass andere Schwierigkeiten eher stärker auftreten und den Drang zur Selbstverletzung überlagern, beispielsweise der Konsum von Drogen oder Alkohol. 

Wer Hilfe benötigt oder eine Person kennt, die eine Anlaufstelle benötigt, wird auf der STAR-Projektseite fündig. Auch können sich Hilfesuchende in der Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche oder bei niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen oder -therapeuten melden. Adressen von Therapeutinnen und Therapeuten findet man beispielsweise auf den Webseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Prof. Dr. Tina In-Albon ist seit 2013 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Zudem ist sie die Leiterin der Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche und des Landauer Studienganges in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Sie leitet derzeit ein Teilprojekt einer vom BMBF geförderten Studie zum selbstverletzenden Verhalten bei Jugendlichen (STAR-ASSESS). Zusätzlich zu nichtsuizidalen Selbstverletzungen sind Angststörungen und Emotionsregulation weitere Forschungsinteressen.

Studien & Literatur (eine Auswahl)

Kraus, L. & In-Albon, T. (2020). Ansteckungseffekte bei selbstverletzendem Verhalten: Einfluss der Medien und persönlicher Kontakte. Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen – Zeitschrift für die psychosoziale Praxis, 16(2), 97–111.

In-Albon, T., Kraus, L., Brown, R., Edinger, A., Kaess, M., Koelch, M., Koenig, J., Plener, P.L., Schmahl, C., & STAR Konsortium. (2020). Nichtsuizidale Selbstverletzungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter: Aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal, 1, 19-25.

In-Albon, T., Plener, P., Brunner, R. & Kaess, M. (2015). Selbstverletzendes Verhalten. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie (1. Auflage). Hogrefe.

In-Albon, T., Plener, P. L., Brunner, R. & Kaess, M. (2015). Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Göttingen. Hogrefe. 

Online-Hilfe über das STAR-Projekt

Jugendliche und junge Erwachsene, die sich selbst verletzen, können Hilfe beim STAR-Projekt finden. Ein Fragebogen gibt vorab Orientierung, ob die Teilnahme am STAR-Projekt sinnvoll ist. 

0 Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.